Sozialgeschichte der Uhrenindustrie

Sozialer Aufstieg durch das Technische Gymnasium

geschrieben am: 20.06.2018 von: Annemarie Conradt-Mach in Kategorie(n): Bildung/Ausbildung

Die Schule für anders Begabte

Bereits 1950, angesichts von fehlenden Bildungs- und Ausbildungschancen für junge Menschen, entwickelten Freiburger Berufsschullehrer den sog. Freiburger Plan. Sie wollten eine höhere Schule, die nicht nur sprachbegabte förderte, sondern technisch-praktisches Wissen als gleichwertig anerkannte.

Das neue Technische Gymnasium in Schwenningen wurde in der ehemaligen Uhrenfabrik Beck untergebracht (Bildarchiv Staatliche Feintechnikschule)

Das neue Technische Gymnasium in Schwenningen wurde in der ehemaligen Uhrenfabrik Beck untergebracht (Bildarchiv Staatliche Feintechnikschule)

Eine Schule für anders begabte sollte es werden. Die Freiburger Berufsschullehrer argumentierten1  :

  • Es gebe einen höheren Bedarf an akademischen Berufen als ausgebildet werden.
  • Das Höhere Schulwesen sei nur für die geeignet, die eine Begabung für Buchwissen haben. Spätreife und Praktiker hätten keine Chance.
  • Gefördert würden nur Schüler, die eine ´überdurchschnittliche Sprachbegabung und  literarisches Interesse aufbrächten
  • Die höhere Schule begünstige ausschließlich Berufe der Philologie, der Rechts-, Geschichts- und Naturwissenschaften, der Wirtschaft verbleibe der Rest (der weniger Gebildeten?) .
  • Wichtig sei die Sicherung der materiellen Existenz als Grundlage aller geistigen und kulturellen Werte.
  • Ziel sei deshalb die Aufhebung des Gegensatzes von allgemeiner Bildung und beruflicher Ausbildung.

Erst die Forderung der Wirtschaft nach mehr und besserer Ausbildung junger Menschen entflammte die Bildungsdiskussion mehr als zehn Jahre später erneut.  Ziel war jetzt eine Verdoppelung der Abiturientenzahlen. Dies glaubte man durch neue Wege zum Abitur zu erreichen. Ab dem 1. August 1967  ((Erlass vom 3.5.1967))  wurden in Baden-Württemberg deshalb neben den Wirtschaftsgymnasien auch Technische Gymnasien und frauenberufliche Gymnasien eingerichtet. Die ersten drei Technischen Gymnasien in Baden-Württemberg begannen in Stuttgart, Freiburg und Schwenningen und befanden sich damals in den Regierungsbezirken Nordwürttemberg, Südbaden und Württemberg-Hohenzollern. Alle drei Gymnasien waren einer beruflichen Schule angegliedert.

In den Begründungen für den Aufbau von Technischen Gymnasien taten sich die Bildungspolitiker und Schulverwaltungsbeamten damals noch schwer. Die neue Schulart sollte den Spagat zwischen den Ansprüchen der Arbeitswelt und den eher humanistischen Vorstellungen der Bildungspolitiker schaffen und außerdem noch die Bildungschancen demokratischer verteilen.

Zur Aufgabenstellung des technischen Gymnasiums formulierte  Ministerialrat Götz: „Es soll die besondere Aufgabe des Technischen Gymnasiums sein, die der modernen Technik und der Wirtschaft, der Arbeits- und Berufswelt immanenten Bildungswerte und Bildungsenergien im Bildungsprozess an jungen Menschen mit ausgeprägter Neigung und Aufgeschlossenheit für diesen Bereich der menschlichen Kultur wirksam und fruchtbar werden zu lassen.

Es geht dabei nicht um eine fachliche Ausbildung, sondern um die Bildung des Geistes, um die Darstellung einer Wertordnung, in der Technik und Wirtschaft den ihnen gemäßen Ort finden, um Erziehung zum kritischen Urteilen und denkenden Handeln, um Verständnis der technischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge, um die Sinnfindung und Sinngebung der Technik und nicht zuletzt um das Zurechtfinden und das richtige Verhalten in der modernen industriellen Gesellschaft.“ Das Technische Gymnasium sei daher kein „Fachgymnasium“.2

Technisches Gymnasium an der Staatlichen Feintechnikschule

In Südwürttemberg gab es nach Meinung der Stadt Schwenningen und der Staatlichen Feintechnikschule nur einen Ort, an dem das neue technische Gymnasium angebunden werden konnte, nämlich an der Staatlichen Feintechnikschule. „Eine Schule, deren Ziel es war  gründlich ausgebildete Praktiker zu erziehen, auf deren Schultern das Gebäude der Feinmechanik, Elektromechanik und Uhrmacherei letzten Endes steht.“3

Erreicht wurde dies durch die Vermittlung von gründlichem handwerklichem Können, von gut fundiertem Fachwissen und durch die Vermittlung einer soliden Allgemeinbildung. Dies war eine Ausbildung, die, das zeigte langjährige Erfahrung, auch eine gute Grundlage für den Besuch einer Ingenieurschule darstellte.

In den 60er Jahren war die Schule gründlich renoviert worden, es gab einen neuen Werkstattbau und einen Verwaltungsbau mit damals sehr modernen Lehrsälen für den Physik- und Chemieunterricht. Alles in allem günstige Voraussetzungen für die neue Schulart.4

 

Nach dem Umbau der Feintechnikschule Mitte der 60 er Jahre (Bildarchiv Staatliche Feintechnikschule)

Nach dem Umbau der Feintechnikschule Mitte der 60 er Jahre (Bildarchiv Staatliche Feintechnikschule)

 

Neue Werkstätten (Bildarchiv Staatliche Feintechnikschule)

Neue Werkstätten 60er Jahre (Bildarchiv Staatliche Feintechnikschule)

Der Mitbegründer des Technischen Gymnasiums Schwenningen Helmut Frommer war 1971 der Überzeugung, dass der gesellschaftliche Wandel der letzten Jahrzehnte veränderte Bildungsinhalte verlange. Die Naturwissenschaften und die Technik hätten in Zukunft lebenserhaltende Funktionen. In Anlehnung an Karl Steinbuch 5   forderte er eine andere Gewichtung des Unterrichtsstoffs, d.h. zentrale Fächer sollten Mathematik, Physik, Biologie und Technik werden. Diese Forderung sei zwar noch nicht wissenschaftlich fundiert, eine Veränderung des Fächerkanons in diesem Sinne würde aber weniger Schaden bringen, als ein weiteres „Verharren beim bisherigen System“.6

Von der Integration einer beruflichen Grundbildung, die auf die „moderne Arbeitswelt ausgerichtet“ sei, „würde eine Gleichwertigkeit von traditionellen und neu zu definierenden Bildungsgütern erreicht und damit die Kluft überbrückt, die heute im Bewusstsein von Eltern und Schülern zwischen Bildung und Ausbildung noch sehr deutlich besteht.“ Und weiter: „Wenn in der Bildungspolitik so viel von Chancengleichheit die Rede ist, sollte dabei weniger an äußere organisatorische Maßnahmen sondern mehr an innere, strukturelle gedacht werden.“7

Chancengleichheit sei erst dann gegeben, „wenn sowohl den mehr theoretisch als auch den mehr praktisch Begabten gleichwertige Möglichkeiten der schulischen Bildung und des entsprechenden Abschlusses eröffnet werden.“ Am technischen Gymnasium in Schwenningen verfolgte man deshalb anfangs das Ziel einer Art Doppelqualifikation „Beruf plus Abitur“.8

Frommer war zurecht der Überzeugung, dass gerade im von der Metallindustrie geprägten Villingen-Schwenningen ein solches Bildungsverständnis der Einstellung eines großen Teils der „industriellen Bevölkerung“ entsprach. Diese betrachtete ein zweckfreies Bildungsdenken, d.h. eine rein akademische Ausbildung sehr kritisch. Viele Menschen der Region hatten nicht einmal eine Berufsausbildung, sondern begannen gleich nach der Volksschule als Angelernte zu arbeiten. Industriearbeit ermöglichte in den 60er Jahren, nach Anschauungen vieler, ein auskömmliches Leben, wenn die ganze Familie arbeitete. Diese Haltung führte zu einer vergleichsweise niedrigen Facharbeiterdichte in der Region, was wiederum in den 80er und 90er Jahren eine hohe Arbeitslosigkeit auslöste.

Die Schüler des Technisches Gymnasiums

Die Gefahr einer vorzeitigen Spezialisierung durch den Fächerkanon des Technischen Gymnasiums sah Frommer nicht. Schließlich würde ein Übertritt ins berufliche Schulwesen nur eine Festlegung für den mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Sektor bedeuten. Der Übertritt nach vier Grundschuljahren in ein klassisches Gymnasium bedeute in aller Regel auch eine Spezialisierung. Vorteil des beruflichen Schulwesens sei vor allem, dass man auf jeder Stufe in die Arbeitswelt übertreten könne. Ein Sachverhalt der in einer überwiegend handwerklich-technisch geprägten Umfeld auch die Angst nahm, was passiert bei einem schulischen Scheitern.

Die Schülerentwicklung9  in den ersten Jahren des Schwenninger Technischen Gymnasiums beweist, dass die Schulplätze begehrt waren, die Anmeldungen das Angebot bei weitem überstiegen.

Die ersten Abiturienten 1970 kamen aus  Schwenningen (4), Dauchingen (1),Villingen (2), Oberndorf (2), Meßstetten (1), Immendingen (1), Aistaig (1), Weigheim (1),  Tuttlingen (1), Tuningen (1), Aulendorf (1),  Zell/Schrozberg (1),  Peterzell (1).

Nach den Zuordnungen Helmut Frommers entsprach die soziale Herkunft der ersten Schüler des Technischen Gymnasiums Schwenningen dem Bevölkerungsdurchschnitt.  Immerhin kamen 54 Prozent der Schüler aus Arbeiter- und Rentnerfamilien, 32 Prozent kamen aus  mittleren Angestellten- und Beamtenfamilien und bei 14 Prozent waren die Eltern Akademiker oder Fabrikanten.

Schwierig war für viele die Versetzung nach Klasse 12, hier versuchte man durch Beratung von Schülern und Eltern, die Schulabbrecher auf eine erfolgversprechendere Berufslaufbahn zu vermitteln. Von den ersten Abiturienten wollten 8 Lehrer werden, im Wesentlichen für naturwissenschaftliche Fächer, 8 wollten Ingenieur werden und vier wollten Diplom-Physik bzw. Diplom-Mathematik studieren.

Für Schüler, die über die Hauptschule ans TG gekommen waren, stellte das Erlernen der Fremdsprache eine besondere Hürde dar. Außerdem schränkte die fachgebundene Hochschulreife mit nur eine Fremdsprache die Studiermöglichkeiten so ein, dass sie bestimmte Fächer nur an einer Hochschule in Baden-Württemberg studieren konnten und diese Fächer an den baden-württembergischen Hochschulen meist auch noch durch den Numerus Clausus zu wenige Studienplätze anboten.

So kam es im April 1970 zum ersten und vermutlich einzigen Schülerstreik am Technischen Gymnasium Schwenningen, bei dem Schüler öffentlichkeitswirksam auf ihr Problem hinwiesen.10..

Vgl. auch http://www.feintechnikschule.de

  1. „Freiburger Plan“ v. 1950 zit. Nach Holger Freese, Der Zweite Bildungsweg an Freiburger Gewerbeschulen []
  2. Alexander Götz, Das technische Gymnasium in Baden-Württemberg. Arbeitsunterlagen 3, S. 25 ff. In: Kultusministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Vorschlag zur Neuordnung des technischen Bildungswesens. Arbeitsergebnisse der Kommission für Ingenieurausbildung beim Kultusministerium Baden-Württemberg. Villingen 1969 []
  3. Staatliche Meister- und Berufsfachschule für Feinmechanik, Elektromechanik und Uhrmacherei in Schwenningen am Neckar (Hrsg.), 50 Jahre Feintechnikschule. Schwenningen 1950, S. 60 []
  4. Helmut Frommer, Bildungsplanung und gewerbliches Schulwesen. S. 108. In: Das Oberzentrum. Jahrbuch Villingen-Schwenningen 1971. Villingen. 1966 wurden neue Werkstätten errichtet. Im renovierten Altbau sind 8 Klassen- und 8 Lehrmittelzimmer, ein Konstruktionssaal untergebracht im Verwaltungsbau ein Physik- und Chemiesaal. []
  5. Karl W. Steinbuch (* 15. Juni 1917 in Stuttgart-Cannstatt; † 4. Juni 2005 in Ettlingen) gilt als als Namensgeber und als einer der Pioniere der deutschen Informatik, mit seiner Lernmatrix als Wegbereiter des maschinellen Lernens und der künstlichen neuronalen Netze, sowie als Mitbegründer der künstlichen Intelligenz und der Kybernetik. Ab dem Ende der 1960er Jahre begann seine politische Tätigkeit gegenüber seiner wissenschaftlichen an Bedeutung zu gewinnen. (Wikipedia v. 21.8.2017) []
  6. A.a.O. S. 114 []
  7. Ebd. S. 115 []
  8. Vgl. Beitrag von Helmut Frommer in der Festschrift „50 jahre technisches Gymnasium in Villingen-Schwenningen. []
  9. Archiv der Staatlichen Feintechnikschule. Helmut Frommer, Technisches Gymnasium in Baden-Württemberg – Notizen vom TG Schwenningen a. N. []
  10. Leserbrief in der Neckarquelle v. 24.4.1970 []

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