Sozialgeschichte der Uhrenindustrie

Das Ende der Computersparte

geschrieben am: 23.10.2017 von: Annemarie Conradt-Mach in Kategorie(n): Kienzle Apparate

Digital wird eine Mitarbeitergesellschaft

Mitten in den Sommerferien wurde bekannt gegeben, dass  Digital  die Tochterfirma Digital-Kienzle vollständig schließen wolle.

Die Beschäftigten der Fa. Kienzle Apparate in Villingen und ihrer Nachfolgefirmen. Daten: Geschäftsberichte der IGM-Verwaltungsstelle Villingen-Schwenningen

Die Beschäftigten der Fa. Kienzle Apparate in Villingen und ihrer Nachfolgefirmen. Daten: Geschäftsberichte der IGM-Verwaltungsstelle Villingen-Schwenningen

Ende Juni waren noch 720 Leute beschäftigt. „ Seitdem sind in großer Hast viele Aufhebungsverträge geschlossen worden. Fragen Sie mich nicht, ob es 70, 90 oder 110 waren. ‘,“ ((StAVS 4.9- 871, SWP v. 23.7.1994 Gestern Nachmittag große Verwirrung. Macht Digital-Kienzle total dicht? Widersprüchliche Nachrichten aus Münchner Zentrale.))  so IG Metall Sekretär Jürgen Martin. Digital plante bereits zum 30.September eine Mitarbeitergesellschaft, die die Belegschaft von Digital-Kienzle aufnehmen sollte.

„Nach der Kündigung des Sozialplanes, in dem die Höhe der Abfindungen für ‚freiwillig‘ ausscheidende Mitarbeiter geregelt ist, nach dem Beschluss … in Deutschland den Personalbestand von derzeit 4700 Stellen um 2 200 zu reduzieren, nach dem Verkauf … [des Bereichs] Öffentliche Verwaltungen an  Alldata, nach der Einstellung der Vertriebsaktivitäten und insgesamt der Zerschlagung sämtlicher Kienzle-typischer Arbeitsbereiche, die dem Unternehmen auch im vergangenen Jahr noch Gewinne beschert haben, plant der Konzern jetzt die Beschäftigungsgesellschaft. Ihr sollen die Männer und Frauen beitreten, die ihren Job bei Digital verlieren werden.“ (( StAVS 4.9- 870, BZ v. 14.9.1994, Christina Nack: Ratlosigkeit und Betroffenheit bei gestriger Betriebsversammlung: Mitarbeitergesellschaft soll Digital Kienzle komplett schlucken.))

Digital wollte der Mitarbeitergesellschaft die Geschäftsräume überlassen und Dienstleistungsaufträge in der Höhe von 60 Millionen Mark. Das neue Unternehmen sollte als GmbH mit einem Stammkapital von 50 000 DM ausgestattet werden. (( StAVS 4.9 -870, Schwabo v. 20.10.1994 Digital löst sich vom Villinger Betrieb. Beschäftigte wechseln für ein Jahr in Mitarbeitergesellschaft/ Konkurrenz untersagt. Ebenso NQ v. 20.10.1994, Neue Firma übernimmt 1500 von Digital/ Kienzle stirbt, MAG läßt hoffen./ Ganz neues Konzept/ Standort Villingen ungewiss. „Der wackelnde Computerriese Digital wird 1500 Angestellte los, die fangen ein neues Unternehmen an und bekommen von ihrer alten Firma ein paar Dutzend Millionen plus Patente und Aufträge. Auf solch ein in Deutschland einmaliges Modell haben sich Manager und Betriebsrat in München geeinigt. Das bedeutet praktisch das Ende für Digital Kienzle GmbH, aber neue Hoffnung für den Standort Villingen.“))

In der Situation des Jahres 1994 sahen viele die Mitarbeitergesellschaft als eine Chance an. Jürgen Martin von der IG Metall, sprach „ von einem einmaligen Vorgang“. „Man betrete absolutes Neuland … Überzeugungsarbeit an den Mitarbeitern sei notwendig, damit diese den Sprung in die MAG (Mitarbeitergesellschaft) wagen. Sonst drohe Arbeitslosigkeit… nachdem in Villingen noch 180 Mitarbeiter mit einem Aufhebungsvertrag die Unternehmen verlassen werden, wird 300 Kienzle-Beschäftigten der Übergang in die Mitarbeitergesellschaft angeboten. Weitere 120 sind noch bei Digital.“ (( StAVS 4.9-870, Südkurier 20.10.1994 Digital gliedert Kienzle aus. Mitarbeitermodell ebnet Weg in Zukunft. Digital-Konzern gibt Kienzle-Betrieb an Beschäftigte ab/ Großzügige Starthilfe für bewährte Dienstleistung. NQ 26.10.1994 Ein Experiment mit 1500 Jobs/ Wie eine günstige Konstellation den Leuten bei Digital neue Hoffnung gibt. „Die Frage ist nur: Können die Bausteine tragen – oder sind sie morsch und werden deshalb abgestoßen. Die Frage kommt in den Versammlungen immer wieder, am Montag in München, gestern in Villingen, heute in Stuttgart, später in Frankfurt, Köln, Hamburg und Berlin…. Die deutschen Standorte- München ausgenommen – hätten schwarze Zahlen schreiben können, wenn die Zwangsabgabe an die Digital-Zentrale (die ersten 35 Prozent des Gewinns) nicht gewesen wäre.“))

Was sagten die Mitarbeiter?

Birgit H. erinnert sich an damals: „Ich war bei dieser Personengruppe, die einen Aufhebungsvertrag bekam mit einer Abfindung. Man sagte  unterschreib jetzt. Da hat im Prinzip jeder unterschrieben. Am Mittwoch oder Donnerstag wurde der Vertrag unterzeichnet und es hieß: am Freitag ist Dein letzter Arbeitstag. Ich hatte noch Zeit, um meine persönlichen Dinge aus dem Schreibtisch zu holen und mich von den Kollegen zu verabschieden. Ich war ja auch schon 10 Jahre dabei. Alles, was Du bisher gemacht hast, interessiert keinen Menschen, Du musst nichts übergeben, sondern einfach nur davon rennen. Am Freitag habe ich mich noch von den Kollegen verabschiedet und meine Jacke geholt, da hieß es: der Personalchef wartet schon. Da haben sie festgestellt, dass in einer Abteilung (programmierbare Speicherbausteine), ein Mitarbeiter gekündigt hatte. Dann wurde mir ein Job angeboten. Ich hab mir bis zum Montag Bedenkzeit erbeten. Die Abfindung war nicht so hoch und dann hab ich mir gedacht, jetzt geh ich halt mal schaffen, dann kann ich mir ja immer noch in Ruhe etwas anderes suchen. Dann musste ich da auf die schnelle eine Abteilung übernehmen, in der früher vier Mann gearbeitet hatten.“ (( Interview mit Birgit H. v. 19. 8. 2015))

 Heinz H. wollte noch die Rente bei  Ditec (Namen der neuen Mitarbeitergesellschaft) erleben: „Die Mitarbeitergesellschaft wurde damals als etwas Gutes angesehen. Da war eine Aufbruchsstimmung. Es gab einen neuen Geschäftsführer, der hat uns einiges Positives vorgegaukelt. Aber im Grunde hat das Unternehmen keine Entwicklung mehr gehabt.  Es gab ja keine Produktion mehr, das war ja nur Vertrieb.  Zum Teil wurden noch die alten Kienzle-Computer-Kunden bedient. Für mich war eine Perspektive da, 1998 wurde ich 63 und da konnte ich in Rente gehen. Ich hab keine große Beschäftigung mehr gehabt. Mindestens 1 Jahr hatte ich das Gefühl, es gibt für mich nichts mehr zu tun. Da sitzt man in der Firma und muss die Zeit absitzen.“ (( Interview mit Heinz H. v. 14. 8. 2015))

Was blieb übrig?

Auch das verbliebene Mannesmann-Unternehmen, der alte A-Bereich, in Villingen hatte 1993 Schwierigkeiten ((StAVS 4.9-870, Südkurier v. 11.11.1993,  Mannesmann spart beim Personal jede fünfte Mark/ Drastisches Sparen bedeutet auch Kündigungen – Unternehmen sucht Ausgleich über flexible Arbeitszeitmodelle))    .  „Inoffiziell wird über einen Abbau von 300 bis 400 Mitarbeitern spekuliert…Das Villinger Unternehmen geriet vor einem Jahr in den Sog der Strukturkrise. Nach den Werksferien 1992 brach der Absatz beim führenden Hersteller von Fahrtenschreibern drastisch ein, denn es werden weniger Lastwagen und Omnibusse verkauft. Norbert Tonhausen: ‚Wir können die Autofirmen nun mal nicht dazu bringen, zwei Fahrtenschreiber in ein Fahrzeug einzubauen‘ … Zwanzig Prozent Personalkosten sind einzusparen, so die Vorgabe… Ab Januar werden bekanntlich die Konzernschwestern VDO und Kienzle ihre Vertriebsaktivitäten neu ordnen. In der gemeinsamen VDO Kienzle Vertrieb und Service GmbH sollen rund  600 Beschäftigte tätig sein, davon auch ein Teil von Mannesmann Kienzle. Geschlossen wird zum Jahresende in Villingen die Abteilung Druckguß, in der 80 Mitarbeiter tätig waren. Nach Schätzung Tonhausens werden bei Mannesmann-Kienzle etwa 1500 Beschäftigte bleiben. Noch im Juni dieses Jahres waren hier 2600 Mitarbeiter tätig.“

Die Badische Zeitung schrieb 1993 zur wirtschaftlichen Situation der Region. „Der Schwarzwald-Baar-Kreis war früher eine blühende Wirtschaftsregion. Seit Mitte der siebziger Jahre stolpert die Region von einer Strukturkrise in die andere: die Uhrenindustrie schrumpfte bös zusammen, die Unterhaltungselektronik verschwand fast völlig von der Bildfläche, der Maschinenbau krebst seit vielen Jahren mehr schlecht als recht dahin. Allein in der Metall und Elektroindustrie fielen in den letzten 15 Jahren rund 10 000 Stellen weg.

Seit sich auf die Struktur- noch die Konjunkturkrise gelegt hat, geht es mit der Wirtschaft im Oberzentrum Villingen-Schwenningen noch steiler bergab als anderswo…. Bedeutende Mittelständler wie die Alugießerei Villingen, Binder-Magnete oder der Autozulieferer Mannesmann-Kienzle bauen jeweils Hunderte von Arbeitsplätzen ab… Villingen-Schwenningen hat inzwischen neben Mannheim die  höchste Arbeitslosigkeit im Land.“ (( StAVS 4.9-870,  BZ v. 29.11.1993,  Franz Dannecker: Erwin Teufel, die Baar und die Millionen/ trotz der Landeshilfe geht die Auszehrung weiter ))

Der ehemalige A-Bereich existiert immer noch in seiner Nachfolgefirma Continental und ist immer noch mit rund 1400 Beschäftigten der größte Arbeitgeber in Villingen-Schwenningen. Die Mitarbeitergesellschaft Ditec konnte sich nicht behaupten. Es gab mehrere Ausgründungen wie die Forest GmbH und die Siemac. Heute ist von dem einst so erfolgreichen B-Bereich der ehemaligen Kienzle-Apparate GmbH nichts mehr übrig.

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