Sozialgeschichte der Uhrenindustrie

Die Wirtschaftskrise der 90er Jahre

geschrieben am: 17.12.2019 von: Annemarie Conradt-Mach in Kategorie(n): Strukturwandel und Arbeitslosigkeit

Das Jahr 1994 – Das schlimmste Jahr seit 1945

1992 kam es zu einem heftigen Beschäftigungseinbruch. Im Februar 1993 meldete das Arbeitsamt, Spitze sei Villingen-Schwenningen nur was die Zahl der Arbeitslosen angeht.

Flugblatt 1993

Flugblatt 1993

Die Stadt hätte landesweit die höchste Zahl an Arbeitslosen. Oberbürgermeister Dr. Gebauer sprach in diesem Zusammenhang vom „schwierigsten Zustand seit 1945“ ((Südwest Presse NQ v. 2.9.1993, Arbeitsamt legt ernüchternde Bilanz vor/ ‚Spitze‘ nur bei Arbeitslosen))  . Zum Jahreswechsel 1993/94 näherte sich die Arbeitslosenquote des Arbeitsamtsbezirks der 10-Prozent -Marke.“ ((Strukturbericht 1993. S. 72))   Die Arbeitslosigkeit im Oberzentrum lag mit 10,5 Prozent ((Pressemitteilungen des Arbeitsamts Villingen-Schwenningen (PM AA) Nr. 61/93 v. 29.10.1993))   weit über dem Durchschnitt in Baden-Württemberg. „Hier macht sich die Konzentration eines Großteils der  Metall- und Elektroindustrie des Arbeitsamtsbezirks in der Stadt Villingen-Schwenningen deutlich bemerkbar.“ Gerade in diesen Branchen seien in den vergangenen 15 Monaten viele Arbeitnehmer gekündigt worden oder mit Aufhebungsverträgen vorzeitig ausgeschieden. ((PM AA Nr. 61/93 v. 29.10.1993))

Man befinde sich in „einer Phase gigantischer Arbeitsplatzvernichtung“. „Im Schwarzwald-Baar-Kreis fallen die Arbeitsplätze wie die Blätter von den Bäumen“, so der Geschäftsbericht der IG Metall. Nirgendwo sonst in Baden-Württemberg sei die Entwicklung so drastisch. „Mannesmann-Kienzle sei noch vor zwei Jahren größter Arbeitgeber mit rund 4000 regionalen Beschäftigten gewesen“. Mannesmann und Digital hätten nach der Aufteilung zusammen jetzt noch insgesamt 3000 Mitarbeiter mit sinkender Tendenz. Die Fa. Binder hatte 1991 noch 1300 Mitarbeiter, im kommenden Jahr würden es noch 850 sein. Bei der Aluminiumgießerei Villingen werde die Zahl der Beschäftigten von 1000 auf 750 heruntergefahren. Die Dufa / Kienzle-Gruppe schrumpfe von 1000 Mitarbeiter auf rund 500 im kommenden Jahr. ((Südkurier v. 25.11.1992, Talsohle noch nicht erreicht‘. IG Metall: 3000 Arbeitsplätze fallen innerhalb weniger Monate in der Region weg.))

Großen Kundgebung wegen der Arbeitslosigkeit

Im Dezember 1992 kam es zum Konkurs der Firma URGOS mit 92 Beschäftigte.  1993 stand die Alu-Gießerei kurz vor dem aus. (( Südkurier v. 15.9.1993, Rettung: Gelder fließen zur Alu-Gießerei))

Um das Weiterbestehen des Unternehmens zu sichern, verzichteten die Beschäftigten auf einen Monatslohn, was den Konkurs aber nicht verhindern konnte.

Die Krise belastete die Region. Am 3. Dezember 1993 kam es zu einer großen Kundgebung auf dem Münsterplatz in Villingen, bei der neben den Betriebsräten betroffener Betriebe auch der Landrat Dr. Rainer Gutknecht und der IG Metall- Bezirksbevollmächtigte Günter Güner sprach. Landrat Gutknecht stellte fest, die Auswirkungen der hohen Arbeitsplatzverluste würden nicht nur die Arbeitnehmer in den Betrieben betreffen. „Auch die öffentlichen Verwaltungen sind unmittelbar betroffen: Die Kosten für die Arbeitslosen und ihre Familien müssen zu einem großen Teil vom Landkreis und den Gemeinden aufgebracht werden. Die kommunalen Haushalte können diese Lasten aber schon jetzt kaum mehr tragen.“

Die Ursachen der Wirtschaftskrise

Nach der Einschätzung des ehemalige Geschäftsführers von Binder/ Kendrion, Heinz Freitag, habe es  Anfang der 90er Jahre drei grundsätzliche Probleme gegeben (( Interview mit Heinz Freitag v. 17.2.2016))  :

  1. Wenige Jahre vorher sei man noch überzeugt gewesen, die Riesencomputer seien die Zukunft der EDV-Industrie. Der Personal Computer sei aber dann für alle ziemlich überraschend über Nacht gekommen. Dies habe dazu geführt, dass IBM seine Fertigung kündigen musste.
  2. Neue CNC-Steuerungen hätten damals die mechanischen Kurvensteuerungen der Werkzeugmaschinen abgelöst. Die deutsche Maschinenbauindustrie sei dann wegen der technologischen Überlegenheit der japanischen Maschinenbauer in die Krise geraten.
  3. In vielen deutschen Unternehmen seien die Strukturen ineffizient gewesen.

Die beschriebenen Entwicklungen betrafen damals viele Unternehmen. Globalisierung, Technologiewandel, Elektronik führten in den 90er Jahren zu sprunghaften Veränderungen. (( Ebd.))   besonders in den 90er Jahren versuchten deshalb viele heimischen Betriebe „überflüssigen Ballast“ abzuwerfen, was zu hohen Einbrüchen der Beschäftigtenzahlen führte.

Entwicklung der Beschäftigten im Bereich der IGM-Verwaltungsstelle Villingen-Schwenningen

Jahr198019871988198919901991199219931994
Männer257612478024331246702527025576246562213720455
Frauen163451387513533135901413114088134651155810842
Deutsche330163310533346320392809926045
Ausländer908063496062612062966318629662965252
Arbeiter289692570024836250702589625945246122136320023
Facharbeiter818282618120797671927192
Angestellte113991104511126114401175212015119671098910189
Auszubildende173819101902175017531407154213431085
weibl. Auszubi.388424385369315242
Gesamt421063865537864382603940139664391213369531297
Quelle: Geschäftsberichte der IGM-Verwaltungsstelle Villingen-Schwenningen
Zwischen 1980 und 1994 gingen in der Metallindustrie 20,6 % der Männerarbeitsplätze, 33,6% der Frauenarbeitsplätze, 30,9 Prozent der Arbeitsplätze für Arbeiter, 12 % der Arbeitsplätze für Facharbeiter und 10,6 % der Arbeitsplätze für Angestellte verloren. 42 % ausländische Beschäftigte fielen weg und 37 % Auszubildende.

Phasen von Veränderungen müssen immer auch durch Aus und Weiterbildung begleitet werden. Es war die Zeit, in der die Maschinen auf CNC-Maschinen umgestellt wurden. Siegfried Reith erinnert sich: „Die Unternehmer waren der Meinung, wenn man das Programm kauft, dann funktioniert das von allein. Die haben die CNC-Maschinen gekauft aber sie hatten keinen, der die bedienen konnte. Da haben wir dann am Abend CNC-Lehrgänge gemacht vom Montag- bis zum Freitagabend. Und am Samstagmorgen. Wir haben sechs  parallel laufende Lehrgänge gehabt, … Und das Arbeitsamt war bereit die Lösung zu finanzieren.“ (( Interview mit Siegfried Reith v. 17.8.2016))

Die Dauer der Arbeitslosigkeit für Ältere nimmt zu

Zu Beginn des Ausbildungsjahres 1993/94 wurden 40 Prozent weniger  Auszubildende eingestellt, obwohl die Region einen viel zu niedrigen Facharbeiteranteil hatte gegenüber anderen baden-württembergischen Industrieregionen. (( Südwestpresse v. 18.9.1993 Sorge um Lehrstellen. IG Metall: Firmen produzieren Facharbeitermangel.))

Für manche dauerte die Arbeitslosigkeit immer länger. Im September 1994 waren  2908 Personen bereits 12 Monate arbeitslos;  1029 Personen hatten schon zwei Jahre Arbeitslosigkeit hinter sich, 261 Personen waren mehr als 4 Jahre arbeitslos. Ein hoher Anteil dieses Personenkreises war über 55 Jahre alt. (( PMAA Nr. 62/ 94 August 94 v. 5.9.1994, S. 4 u. 5))

Immer mehr Arbeitslose bekamen wegen der Dauer der Arbeitslosigkeit Arbeitslosenhilfe. (( Strukturbericht 1993, S. 85))

1992/93 verdoppelte sich die Ausgaben für das Arbeitslosengeld, die Kosten für die Arbeitslosenhilfe stiegen um 85 %, das Kurzarbeitergeld verdreifachte sich in der gleichen Zeit.1992 wurden vom Arbeitsamt Villingen-Schwenningen 200 Mill. DM an Arbeitslosenhilfe und Kindergeld ausgezahlt. (( Ebd.))   Im Dezember 1992 hatte sich die Kurzarbeit innerhalb eines Jahres mehr als verdreifacht. Die Arbeitslosigkeit nahm im gleichen Zeitraum bei den Fertigungsberufen um 60 Prozent zu, bei Ingenieuren und Technikern stieg die Arbeitslosigkeit sogar um 95 Prozent.“ (( PM AA Nr. 7/93 v. 4.2.1993, S. 2))   Arbeitsplätze gab es nur noch im Hotel- und Gaststättenbereich. (( PM AA Nr. 30/93 v. 3.6.1993))  Absolventen aus schulischen Ausbildungsgängen fanden keine Arbeit. Auszubildende wurden nicht mehr übernommen. (( PM AA Nr. 36/93 v. 5.7.1993))   Die Betriebe versuchten ihre älteren Mitarbeiter, die wegen ihrer langen Zeit der Betriebszugehörigkeit praktisch unkündbar waren, mit Abfindungssummen zu Aufhebungsverträgen zu überreden. In den ersten 10 Monaten des Jahres 1993 waren zwischen 1/5 und ¼ der Arbeitslosen über 55 Jahre alt. (( Strukturbericht 1993, S. 83))   Nach wie vor war der Anteil der Frauen an der Arbeitslosigkeit sehr hoch. ((Ebd.  S. 79))

Zunahme betrieblicher Interessensausgleichsvereinbarungen

In dieser Zeit kam es für die Gewerkschaften darauf an betriebsbedingte Kündigungen möglichst zu vermeiden. Dies geschah unter anderem durch betriebliche Interessensausgleichsvereinbarungen, die  Vorruhestandsregelungen, Gewährung von Erziehungsurlaub, Unterbrechung der Arbeit durch Weiterbildung, Kurzarbeit, Vermeidung von Mehrarbeit, Einstellungsstopps und Teilzeitarbeit nutzten. (( IG Metall Geschäftsbericht 1993-1995, S. 40))

30 Interessenausgleiche und Sozialpläne wurden so in der einheimischen Metallindustrie ausgehandelt. ((Ebd.))

Über Beschäftigungssicherungs-Tarifverträge versuchte die IG Metall durch abgesenkte Arbeitszeiten, die durch Strukturkurzarbeit, Abfindungen und Einkommenskürzungen finanziert wurden, weitere Entlassungen zu verhindern, so bei den Firmen Johann Jäckle, Forest, Winkler, Burger Spritzguss und Binder Magnete. ((Ebd. S. 7))

Durch die vielen Entlassungen veränderte sich die Zusammensetzung der Metallarbeiterschaft.  Zwischen 1980 und 1994 nahmen  die männlichen Beschäftigten um 21 Prozent, die weiblichen um 34 Prozent, Ausländer um 43 Prozent, ungelernte Arbeiter um 31 Prozent, Facharbeiter um 13 Prozent und Auszubildende um 38 Prozent ab. ((IGM Geschäftsbericht 1993-94-95. S. 6))

Tarifbindung Metallindustrie IGM-Verwaltungsstelle Villingen-Schwenningen 1999

Tarifbindung Metallindustrie IGM-Verwaltungsstelle Villingen-Schwenningen 1999

Es gab einen Trend weg vom Flächentarifvertrag hin zur Betriebsvereinbarung. Immer mehr Unternehmen traten aus dem Arbeitgeberverband aus. Im  Bereich der IGM-Verwaltungsstelle Villingen-Schwenningen hatten fünf Prozent der Betriebe einen Anerkennungstarifvertrag, 38 Prozent hatten keinen Betriebsrat mehr, 16 Prozent der Betriebe  hatten einen Betriebsrat, waren aber nicht mehr tarifgebunden. Nur noch 41 Prozent der Unternehmen gehörten dem Arbeitgeberverband Südwest Metall an. ((IG Metall Geschäftsbericht 1996-99. S . 35))

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