Sozialgeschichte der Uhrenindustrie

Wie kann man Arbeitsplätze erhalten?

geschrieben am: 28.06.2018 von: Annemarie Conradt-Mach in Kategorie(n): Strukturwandel und Arbeitslosigkeit

Zunehmender Leistungsdruck in den Betrieben

Zwischen 1976 und 1979 erholte sich die Wirtschaft wieder.  Im Juli 1977 lag  die
Arbeitslosenquote im Schwarzwald-Baar-Kreis bei 2,2 Prozent und damit bereits unter dem Landesdurchschnitt von 2,6 Prozent. Die Struktur der Wirtschaft hatte sich aber trotz der Turbulenzen wenig verändert. Das produzierende Gewerbe lag 1974 bei 66,4 Prozent, Handel und Verkehr bei 9,9 Prozent, die übrige Dienstleistungen bei 21,0 Prozent. Die Landwirtschaft hatte einen Anteil von 2,6 Prozent. (( a.a.O. Pressemitteilung v. 1.September 1977.))  85,3 Prozent der Industriebetriebe gehörten zur Eisen-und Metallbranche.

Das Klima in den Betrieben hatte sich trotz wirtschaftlicher Erholungsphase erheblich verschlechtert. Das Vertrauen vieler Arbeitnehmer in ihre wirtschaftliche Zukunft war massiv erschüttert. Eine Umfrage unter dem IG Metall-Mitgliedern im Frühjahr 1979, die in 11 Betrieben durchgeführt wurde,  ergab, bei 64 Prozent der Befragten habe der Leistungsdruck in den letzten Jahren zugenommen, 28 Prozent empfanden ihren Arbeitstag als sehr belastend, 60 Prozent erklärten, sie hätten keine Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten bei ihren Arbeitsabläufen, 42 Prozent glaubten, dass ihre Arbeitsplätze unsicher seien, 34 Prozent befürchteten Nachteile, wenn der Arzt sie krankschrieb. ((IG Metall Verwaltungsstelle Villingen-Schwenningen, Geschäftsbericht 1978-79-80. S. 11))

Ein ehemaliger Facharbeiter erinnert sich: „1975 habe ich geheiratet, 1975 hab ich dann einen neuen Job bekommen in der Firma, Der Job der [fraß] mich fast auf. Der Arzt meinte, suchen sie sich einen anderen Job. – Hab ich gesagt, ich hab ein Kind, ich hab gebaut, so einfach ist das nicht.  Der Arzt: Sie müssen zurückdrehen.  Mit Medikamenten habe ich es dann geschafft.“

Die Betriebe suchten ihre Kosten zu verringern durch effizienzsteigernde Umorganisationen, Abbau von Arbeitsplätze und  durch Reduzierung der Lohnkosten.  Mit einem Tarifvertrag zur Einkommenssicherung der Arbeiter und Angestellten reagierte die IG Metall auf diese Entwicklung. ((  IG Metall Verwaltungsstelle Villingen-Schwenningen, Geschäftsbericht 1975-76-77 S. 32))

Arbeitszeitverkürzung soll Arbeitsplätze schaffen

Weiteren Arbeitszeitverkürzungen sollten nach gewerkschaftlichen Überlegungen neue Arbeitsplätze schaffen.

Während der Tarifverhandlungen im Februar 1978, bei denen  die südbadischen Unternehmer sich im Gegensatz zu den südwürttembergischen anfangs den Forderungen der IG Metall verweigerten, kam es  in der Alu-Gießerei zu einer dreißigminütigen Arbeitsniederlegung. ((Badische Zeitung  v. 15.2.1978. Bei der ALU-Gießerei standen gestern Morgen die Räder still. ))   Im März 1978 gab es Warnstreiks bei Kienzle Apparate, bei der SABA, in der Alu-Gießerei, bei Binder-Magnete, bei Burger-Spritzguß, bei Winkler und den Elektro-Isolierwerke. Bei Kienzle Apparate  machten die Streikenden mit Transparenten und Sprechchören auf sich aufmerksam: „Abgruppierung ist gemein – Besitzstandssicherung muß sein.“ ((  Badische Zeitung vom 11.3.1978, Warnstreiks in sieben betrieben. Massiver Protest der Metaller.))

Am 1. 5. 1978 trat der „Tarifvertrag zum Schutz der Eingruppierung und zur Verdienstsicherung bei Abgruppierung“ in Kraft. 1979 wurde ein Stufenplan für die Verlängerung der Urlaubstage auf 30 Tage ausgehandelt. ((IG Metall Verwaltungsstelle Villingen-Schwenningen, Geschäftsbericht 1978-79-80. A.a.O. S. 33 ))

Obwohl viele Menschen der Region in den 70er Jahren um ihre Arbeitsplätze zittern mussten, in manchen Familien die Einkommen der Ehefrauen wegfielen, zeigte gerade die alljährliche Südwest-Messe, die Konsumentenshow der Region, dass die Konsumgesellschaft sich in der Region durchgesetzt hatte. Die Besucherzahlen der Südwest-Messe blieben hoch, vielleicht hatte man jetzt sogar mehr Zeit, sich dem Ausbau seines Häusles zu widmen. Renner waren Reise-Buchungen, Caravans, Geschirrspüler, Tiefkühltruhen und Mikrowellengeräte ((Südwestmesse. Villingen-Schwenningen 1950 bis 2008. Ausstellung für Industrie, Handel, Handwerk, Hauswirtschaft und Landwirtschaft. Baufachschau und HausBauPark. S. 70-99))  . Die Freizeit hatte zugenommen, wurde wichtiger als die Arbeit und der Preisverfall, vor allem bei Geräten der Unterhaltungselektronik, ermöglichten es vielen bei dieser Entwicklung mitzuhalten. ((König, Wolfgang: Die siebziger Jahre als Konsumgeschichtliche Wende in der Bundesrepublik. In. Jarausch, Konrad H. (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008, S. 84-94, S. 92))

 

Ursachenforschung

Zur Analyse der Wirtschaftskrise wurden zwei Studien ausgeschrieben: eine Studie über die „Technologie und Markttendenzen in der Uhrenindustrie“ (Mackintosh-Studie) und  eine sozialwissenschaftlichen Begleitstudie „Auswirkungen der Technologie-Entwicklung auf Arbeitsplätze und Unternehmen in der deutschen Uhrenindustrie“ (Töpfer-Studie). ((F. Hamke, Die Foerderungsmassnahmen  des BMFT fuer die Uhrenindustrie. Ausgangslage, Foerderungsmassnahmen und Wirkungen. Untersuchung im Auftrage des VDI-Technologiezentrums, Berlin 1982 ,S. 60, Die Studien umfassten zusammen etwa 3000 Seiten. A.a.O. Hamke, S. 67))

Die Mackintosch-Studie betonte die im Vergleich zu den ausländischen Wettbewerbern hohen Personalkosten der Uhrenindustrie. Im internationalen Wettbewerb wirkten sich vor allem die weltweit höchsten Lohnnebenkosten der Bundesrepublik aus. ((SAVS 4.9-439 Mackintosh Consultants: Technologie- und Markttendenzen in der Uhrenindustrie, Teil A- Technologie und Produktion. Studie im Auftrag der Fraunhofergesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung. Durchgeführt im Rahmen der Förderungsmaßnahmen des Bundesministeriums für Forschung und Technologie – BMFT. November 1977,  S. 431 ))

Im bundesdeutschen Vergleich seien die Löhne der Uhrenindustrie zwar niedrig, gerade aber bei den niedrigen Löhnen  hätten sich die seit den 50er Jahren von Gewerkschaften erstrittenen Lohnerhöhungen erheblich stärker ausgewirkt als bei den hohen ((Ebd. Teil A, S. 411))  .

Eine Umstellung auf elektronische Uhren könne eine Verbesserung der Situation auf dem Arbeitsmarkt nicht bringen, schließlich hätten die elektronischen Uhren eine wesentlich geringere Fertigungstiefe. Um den aktuellen Beschäftigungsstand zu halten, müsste die Uhrenindustrie dann wesentlich höhere Umsätze erreichen. (( Ebd. Teil A. S. 504/ 505 ))

 

Mechanisches Weckerwerk. Durch das Quarzwerk werden völlig andere Qualifikationen benötigt. (Bild: Stadtarchiv Villingen-Schwenningen)

Mechanisches Weckerwerk. Durch das Quarzwerk werden völlig andere Qualifikationen benötigt. (Bild: Stadtarchiv Villingen-Schwenningen)

Die Studie schlug eine Verlagerung der Produktion der Uhrenindustrie in Billiglohnländer vor. ((Ebd. Teil C, S.252-254 ))

Dadurch könnte der durch die Umstellung auf Quarzuhren veraltete Maschinenpark weiter verwertet werden, es könnten Absatzmöglichkeiten ausgeweitet und Zölle umgangen werden. Ein solches Vorgehen sei aber nur  finanzstarken Unternehmen möglich  ((Ebd.))   . In Deutschland selbst Quarze herzustellen, mache keinen Sinn mehr, weil die amerikanischen und japanischen Hersteller die Märkte bereits mit ihren Überkapazitäten überschwemmten ((Ebd. Teil C, S. 257))   . Die deutsche Uhrenindustrie jedenfalls war nach Ansicht der Experten nicht in der Lage Bauelemente und Batterien „selbst zu entwickeln“.

Die Autoren urteilten, „die große Stärke der deutschen Uhrenindustrie [werde] auch in der absehbaren Zukunft auf dem Gebiet der mechanischen Technik liegen. Als bedeutend könnte sich das Knowhow in der Entwicklung kostensparender Mechanismen in Metall – aber auch in Kunststofftechnologie erweisen.“ ((Ebd. Teil C, S. 262))

Da mit den Uhren auf Dauer in einem Hochlohnland kein Geld mehr zu verdienen war, sollte die Industrie auf sinnvolle Diversifikationsprodukte aus dem Bereich der Feinwerktechnik umstellen. ((Ebd. Teil C, S. 263))  Die Produkte müssten vor allem höherwertig sein, Massenproduktion habe in Deutschland keine Zukunft mehr. ((Ebd. Teil C, S. 271 ))

Die Autoren der Mackintosh-Studie waren überzeugt: „Wenn die deutschen Uhrenhersteller … den weltweiten Herausforderungen des Wettbewerbs gewachsen sein wollen, müssen sie bereit sein, die historisch gewachsenen Strukturen der deutschen Uhrenindustrie in Frage zu stellen und sie den neuen Anforderungen anzupassen.“ ((Ebd. Teil C, S. 285 ))

Auswirkung der Quarztechnologie auf die Arbeitsplätze

Die Töpfer-Studie ((SAVS 4.9-419, Diplom-Volkswirt Peter Töpfer Planung und Beratung, Auswirkungen der Technologie-Entwicklung auf Arbeitsplätze und Unternehmen in der deutschen Uhrenindustrie. Zusammenfassung wichtiger Ergebnisse. Untersuchung, durchgeführt im Rahmen der Förderungsmaßnahmen des Bundesministeriums für Forschung und Technologie – Projekt NT 624 – Rodgau 3 1978.  Die Töpferstudie ist ein dreibändiges umfassendes Werk. (Töpferstudie) ))  stellte fest, dass eine Umstellung auf die neue Quarztechnologie  die Anzahl der Arbeitsplätze weiter drastisch verringern werde. Trotzdem müsse die deutsche Uhrenindustrie auf diese Technologie umstellen, wenn sie nicht ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit verlieren wolle. An der Uhrenkrise Mitte der 70er Jahre sei die Quarzuhr nur in ganz geringem Umfang schuld gewesen, in Zukunft würden die neuen Technologien die Arbeitsplätze aber rapide verringern.

Die bevorstehende Einführung der Halbleitertechnik würde aber nicht nur die Arbeitsplätze der Uhrenindustrie bedrohen, sondern auf Dauer sämtliche Industriebereiche betreffen mit nicht überschaubaren weiteren negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. ((Ebd. S. 15))

Für den Fertigungsbereich rechnete die Töpfer-Studie mit einem starken Rückgang der Arbeitsplätze. Von den 60 Teilen der mechanischen Uhr blieben bei einer Quarzuhr mit Analoganzeige noch 40 Teile übrig, 29 mechanische und 11 elektronische. Eine Quarzuhr mit elektronischer Anzeige habe gerade noch 9 Teile, nur drei davon mechanisch. ((Ebd. S. 14 ))  Die Halbleitertechnik würde aber nicht nur das Produkt Uhr selbst, sondern auch durch neue Fertigungsprozesse die weitere Automatisierung rasant verändern.

Notwendig ist besser ausgebildetes Personal

Anteile der Funktionsbereiche an der Gesamtbeschäftigung in der Uhrenindustrie 1978 (in vH)

FunktionsbereichKleinuhrenandere GroßuhrenWeckerTechnische Uhren
Marketing7,46,32,58,3
Technik4,24,92,18,8
Produktion81,485,791,682.7
Service7,03,13,80,2
Die Daten wurden übernommen aus: Horst Hinz / IGMetall/ Vorstand-Abt Wirtschaft: Uhrenindustrie,Elektronik und Arbeitsplätze. Frankfurt a. M v. 26.9.1978. Der Artikel von Horst Hinz basiert auf Diplom-Volkswirt Peter Töpfer, Planung und Beratung: Auswirkungen der Technologie-Entwicklung auf Arbeitsplätze und Unternehmen in der deutschen Uhrenindustrie. ZUsammenfassung wichtiger Ergebnisse. Untersuchung durchgeführt im Rahmen der Fördermaßnahmen des Bundesministeriums für Forschung und Technologie. Projekt NT 624.

1978 machte die Produktion in den Betrieben der deutschen Uhrenindustrie noch zwischen 80 und 90 Prozent aus. Im Bereich Marketing waren nur zwischen 2,5 und 8 Prozent des Personals beschäftigt, im Bereich Technik zwischen zwei und acht Prozent und im Service zwischen 0,2 und 7 Prozent.

Kritisiert wurden von der Töpferstudie die autoritären Organisationsstrukturen der Klein- und Mittelbetriebe, in denen der Chef in der Regel alles entscheide. ((SAVS 4.9- 419, Horst Hinz/ IG Metall/ Vorstand- Abt. Wirtschaft: Uhrenindustrie: Elektronik und Arbeitsplätze. Frankfurt/ M. 26.9.1978,  S. 5))  Die Unternehmen bräuchten jetzt, so die Meinung der Autoren, spezialisiertes Wissen, was in den vorhandenen Betriebsstrukturen nicht zur Verfügung stehe.  Über  Beratung durch externe Stellen und durch staatliche finanzielle Unterstützung ((Töpferstudie S. 46,  Horst Hinz/ IG Metall/ Vorstand- Abt. Wirtschaft: Uhrenindustrie: Elektronik und Arbeitsplätze. Frankfurt/ M. 26.9.1978,  S. 5))   sollten diese massiven Defizite ausgeglichen werden.

Für die nahe Zukunft sah Töpfer bis 1985  bei  konstantem Absatz einen Verlust an Arbeitsplätzen zwischen 20 und 50 Prozent voraus. Dies würde ganz besonders den Fertigungsbereich der Großuhrenindustrie betreffen, der immer noch sehr personalintensiv sei. ((Ebd. S. 20))

Zunehmen würden in Zukunft in den Unternehmen „die dem Produktionsbereich vor- und nachgelagerten Bereiche“, was erheblich mehr qualifiziertes Personal im technischen und kaufmännischen Management erfordern würde. ((Ebd. S. 23))  Die Überwindung der Krise war nur möglich durch mehr qualifiziertes und besser ausgebildetes Personal.

Die wenigsten Beschäftigten der Uhrenindustrie waren sich 1978 bewusst, wie sehr  ihre Arbeitsplätze durch die neue Mikroprozessortechnik bedroht waren. ((Horst Hinz, Ebd. S. 9))

66 Prozent  hofften auf eine wirksame Hilfe durch den Staat. In dieser Hinsicht waren sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleich, beide warteten  auf Hilfe durch den Staat. ((SAVS 4.9-419 Ergebnisprotokoll der außerordentlichen Mitgliederversammlung des Verbandes der Deutschen Uhrenindustrie e. V. am 15.2. 1979, um 14.00 Uhr im Hotel Rappen Freudenstadt. S. 4))

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