Sozialgeschichte der Uhrenindustrie

Die Uhrenkrise 1973 bis 1975

geschrieben am: 22.06.2018 von: Annemarie Conradt-Mach in Kategorie(n): Strukturwandel und Arbeitslosigkeit

Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit

Mit der Gründung der Stadt Villingen-Schwenningen kehrte die Arbeitslosigkeit in die Region zurück. Diese Erfahrung war für die Betroffenen bitter. (( Es gibt nur wenige Menschen, die bereit sind über Zeiten von Arbeitslosigkeit zu berichten, weshalb man sich diesem Phänomen nur durch Statistiken annähern kann, die leider nur marginal zu erkennen geben, welche Schicksale sich hinter ihnen verbergen.))

Frauenarbeit in der Uhrenindustrie/ Stadtarchiv Villingen-Schwenningen

Frauenarbeit in der Uhrenindustrie/ Stadtarchiv Villingen-Schwenningen

Die Wirtschaftskrise hatte globale Ursachen. Die Aufgabe der festen Wechselkurse und damit das Sinken des Dollarkurses führten zur Verteuerung deutscher Waren im Ausland. In unserer Region betraf dies 1975 vor allem die exportorientierte  Uhrenindustrie. Die seit 1973 steigenden Erdölpreise führten außerdem weltweit zu einer Verringerung der Nachfrage, weil die steigenden Energiekosten bezahlt werden mussten.  Deutsche Uhren wurden einfach zu teuer. Sie konnten deshalb auch der japanischen Konkurrenz, in Japan wurde mit einem erheblich niedrigeren Lohnniveau produziert als in Deutschland,  nicht mehr standhalten.

1974 durch den Kaiser-Konkurs stieg die Zahl der Arbeitslosen nach der Wirtschaftskrise von 1967 erstmals wieder, die Quote betrug allerdings Ende Juli nur 1,2 Prozent. Im April 1975 gab es im Arbeitsamtsbezirk Villingen-Schwenningen bereits eine Arbeitslosigkeit von 3,8 Prozent, die Entlassungen in der Uhrenindustrie machten sich bemerkbar.  Die Kurzarbeit war aber nahezu dreimal so hoch, da die Unternehmen damals noch überzeugt waren, dass die konjunkturelle Lage sich schnell wieder verändern und die Situation des Arbeitsmarktes sich rasch verbessern würde.

Leider traf diese Einschätzung nicht zu. Von 1970 bis 1974/75 hatten sich die Beschäftigten der deutschen Uhrenindustrie bereits um rund 25 Prozent reduziert.  ((Hamke, F.: Die Förderungsmaßnahmen des BMFT für die Uhrenindustrie. Ausgangslage, Förderungsmaßnahmen und Wirkungen. Untersuchung im Auftrage des VDI-Technologiezentrums, Berlin. Berlin 1982 (Masch.), S. 25))  In Villingen-Schwenningen mussten die traditionsreichen Uhrenfabriken Kaiser und Mauthe Konkurs anmelden, die Uhrenfabrik Kienzle entließ zur gleichen Zeit rund 1000 Beschäftigte.

Vor 1973 war der Rückgang der Arbeitsplätze kaum aufgefallen, weil die betroffenen Arbeitnehmer in andere Betriebe vermittelt werden konnten. ((SAVS 4.9-1168. Kurzbericht anlässlich der 1. Sitzung des Sonderausschusses des Landesarbeitsamts. (VDU-Bericht), S. 2))  Erst jetzt durch die Wirtschaftskrise konnten diese Personen nicht mehr weiterbeschäftigt werden ((Ebd. S. 3))  und wurden arbeitslos. Es musste alles getan werden, um neue Arbeitsplätze zu schaffen.

Arbeitsplatzverluste in der Großuhrenindustrie

Der Arbeitskreis Uhrenindustrie beim Landesarbeitsamt stellte fest, besonders betroffen von der Arbeitslosigkeit sei die Großuhrenindustrie, die fast ausschließlich in der Region Schwarzwald-Baar –Heuberg ansässig war und einen Exportanteil von 70 Prozent hatte. (( SAVS 4.9-1168, Kurzprotokoll der 1. Sitzung am 15. Dezember 1975 im Beethovenhaus. S. 3 ))

Im Bereich des Arbeitsamts Villingen-Schwenningen gab es im Januar 1976 eine Arbeitslosenquote von  5,1 Prozent,  besonders hoch war die Quote in Schwenningen. Die Arbeitslosigkeit betraf überproportional die ungelernten und die weiblichen Beschäftigten. ((SAVS 4.9-1168 2. Sitzung des Arbeitskreises Uhrenindustrie v. 12.2.1976, Anlagen Sonderuntersuchung über die Arbeitslosigkeit in der Uhrenindustrie in den Arbeitsamtsbezirken Rottweil und Villingen-Schwenningen. Mitte Januar 1976))  Was für Villingen-Schwenningen fatal war. Der wirtschaftliche Wiederaufbau nach dem zweiten Weltkrieg war vor allem durch die vielen an- und ungelernten Hilfskräfte entstanden. Dies waren überwiegend Menschen, die gleich nach dem Volksschulabschluss in einen Betrieb eintraten, um Geld zu verdienen. Man konnte in den 60er Jahren auch ohne berufliche Ausbildung schnell relativ viel Geld verdienen. Wenn eine ganze Familie zusammenhielt, war auch die Anschaffung eines PKWs, eines Fernsehgeräts oder einer Ferienreise möglich.

Vor allem die Arbeiterinnen hatten nur selten eine Berufsausbildung. „Das war halt das allgemeine, bei uns daheim hat der Vater gesagt, die Buben dürfen etwas lernen und ihr (die Mädchen) geht in die Fabrik, “ erklärte  eine ehemalige Fabrikarbeiterin. In der Folgezeit sollte sich die schlechte Ausbildung der Frauen rächen, sie waren überproportional an der Arbeitslosigkeit beteiligt.

Erste Krisenanalyse und Forderung nach staatlicher Hilfe

Im August und September 1975, nachdem durch den Kaiser- und den Mauthe-Konkurs sowie die Entlassungswellen bei Kienzle die Lage sich dramatisch zugespitzt hatte, appellierte die Industriegewerkschaft Metall an die Landesregierung, den von Entlassung Betroffenen zu helfen und Strukturmaßnahmen für neue Arbeitsplätze zu schaffen. Wie bei Audi-NSU in Neckarsulm ((Boelke, Willi A.: Wirtschaftsgeschichte Baden-Württembergs von den Römern bis heute. Stuttgart 1987, S. 584. Aufgrund der Erdölkrise war es auch bei VW zu Umsatzeinbrüchen gekommen, denen man durch Massenentlassungen begegnen wollte. Die Bundesregierung stellte 200 Millionen für VW-Regionen zur Verfügung, das Land gab Zuschüsse in Höhe von 60 Millionen DM, darunter Rückkehrprämien für NSU-Gastarbeiter. ))  müsse die Landesregierung Hilfen für rückkehrwillige ausländische Arbeitnehmer anbieten.

Die IG Metall sah in der aktuellen Wirtschaftskrise den Beginn einer Strukturkrise der Wirtschaft voraus und forderte eine Koordinierungsstelle für Maßnahmen der Strukturpolitik unter gleichberechtigter Beteiligung der Gewerkschaften ((Schwarzwälder Bote v. 12.9.1975. IG Metall geht in die Offensive. Katalog fordert Hilfe von Bund, Land und den Uhrenunternehmern.))  .  Bund und Land sollten Mittel zur Verfügung stellen, damit in der Region neue Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. Vom Bundesarbeitsminister wurde außerdem verlangt, die Kurzarbeiterunterstützung von 18 Monaten auf 24 Monate auszudehnen.

Am 21. Oktober 1975 lud die IG Metall über 100 Vertrauensleute, Betriebsräte und Funktionäre nach Sindelfingen ein, um zusammen mit Wissenschaftlern „nach Rettungsmöglichkeiten“ zur Überwindung der Strukturkrise zu suchen ((  Frankfurter Rundschau v. 25.10.1975 In der Uhrenindustrie schlägt die Stunde der Entscheidung))  . Der sich abzeichnenden Wandel der Technologie, wie die Entwicklung und Anwendung elektronischer Bauteile und der Wegfall mechanischer Bauteile, die Verkleinerung der Geräteteile und das Aufkommen der Kunststoffe verlange eine völlige Änderung der heimischen Industrie. Vor allem brauche es neue Produkte. Die Wirtschaftsstruktur sollte durch Kapitalhilfen von Bund und Ländern verbessert werden „unter Erteilung von Auflagen“ zur „Erhaltung, Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen.“ Da öffentliche Fördermittel auch von den Beschäftigten erarbeitet worden seien, müssten die Gewerkschaften auch bei der Verteilung dieser Mittel eine Mitsprache haben. (( Vorstand IGM (Hrsg.), Branchenkonferenz „Uhren“ der Industriegewerkschaft Metall für die Bundesrepublik Deutschland. „Uhrenindustrie zwischen technischem Fortschritt und Wettbewerb“. 21. Oktober 1975 Sindelfingen. Frankfurt 1975, S. 99f . An dieser Konferenz nahmen auch mehrere Teilnehmer aus Villingen-Schwenningen teil: OB Gebauer, IGM-Bevollmächtigter der Verwaltungsstelle Villingen-Schwenningen Erich Mayer u.a.))

Den Unternehmen wurde vorgeworfen, die Quarztechnologie verschlafen zu haben. ((  Ebd. S. 59))  Diese hingegen sahen in den Forderungen der IG Metall eine „Investitionslenkung und Unternehmerkontrolle durch die Gewerkschaft“. ((SAVS 4.9-679 Südwestfunk v. 25.10.1975 (Mitschrift) A.a.O. S. 4))

Kienzle Quarzarmbanduhr (Stadtarchiv Villingen-Schwenningen)

Kienzle Quarzarmbanduhr (Stadtarchiv Villingen-Schwenningen)

 

Das Innenleben einer Quarzuhr (Stadtarchiv Villingen-Schwenningen)

Das Innenleben einer Quarzuhr (Stadtarchiv Villingen-Schwenningen)

Außerdem argumentierten sie, die schnelle Umstellung auf Quarzuhren, wie sie die IGM wünsche,  würde das „Fertigungsvolumen“ nur noch weiter verringern und die Abhängigkeit von elektronischen Bauteilezulieferern aus den USA zusätzlich vergrößern. Trotzdem sahen auch die Uhrenhersteller angesichts der prekären Situation seit 1974 die Notwendigkeit zu einer Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Forschung und Technologie, der Fraunhofergesellschaft und den Bauelemente-Herstellern und -Anwendern. ((SAVS 4.9-868 Argumentationspapier des VDU v. Oktober 1975 ))

Erste Unterstützungsmaßnahmen

Das Land nahm den Raum Villingen-Schwenningen in die Regionalförderung  auf und unterstütze mit dem Uhreninstitut in Stuttgart Forschung und Entwicklung in diesem Bereich. ((Ebd.))   Eine Pressemitteilung des Wirtschaftsministeriums vom 1. September 1977 stellte fest: Seit 1974 habe das Land im Schwarzwald-Baar-Kreis 363 neue Arbeitsplatze geschaffen und 6090 Arbeitsplätze gesichert. Über das Mittelstandsprogramm seien durch die Landeskreditbank 188 Darlehen mit einem Wert von insgesamt 28,74  Millionen DM vergeben worden. Dies habe zu Investitionen in Höhe von fast 106 Millionen DM  geführt, was 984 neue Arbeitsplätze brachte und 3 357 Arbeitsplatze sicherte. Weiterhin zahlte die Landeskreditbank Darlehen von insgesamt 14 Millionen Mark Liquiditätshilfe an 26 Unternehmen. Damit seien weitere 4 113 Arbeitsplätze gesichert worden. Den Gemeinden des Kreises habe man zwischen 1971 und 1976 Finanzhilfen zur Erschließung von Industriegelände in Höhe von 2, 416 Millionen DM gewährt. Neun Gemeinden des Kreises hätten Zuschüsse zu Infrastrukturprojekten in Höhe von 24 108 000 Mark erhalten. Grundsätzlich sei man dem Grundsatz Hilfe zur Selbsthilfe gefolgt. ((  SAVS 1.19.4 Nr. 7,  Pressemitteilung des Ministeriums für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr Baden-Württemberg vom. 1. 9. 1977, Soziale Sicherheit an erster Stelle))

Überall begann man nun nach den Ursachen der Krise zu forschen. Eine Befragung des Landesarbeitsamts von 60 Unternehmen der Uhrenindustrie ((SAVS 4.9-1168,  Arbeitslosigkeit 1977. Befragung des Landesarbeitsamts Ba Wü, Sommer 1976, S. 2))  ergab, dass  1976 die überwiegende  Mehrzahl der Unternehmen immer noch konventionelle mechanische Uhren produzierte.

„Vom Angelernten zum Facharbeiter“

Die Struktur der Arbeitskräfte stellte sich folgendermaßen dar: 53 Prozent der Beschäftigten in den befragten Betrieben waren Männer und 47 Prozent Frauen.  72 Prozent  der beschäftigten Frauen arbeiteten  als Ungelernte, überwiegend im Akkordlohn.

Nur drei Prozent der weiblichen Arbeiter waren Facharbeiterinnen, bei den Männern hatten  dagegen 82 Prozent eine Berufsausbildung.  Selbst bei den männlichen Gastarbeitern hatten 25 Prozent einen Beruf erlernt. Bedenklich war, dass die befragten Betriebe ihre Ausbildungsplätze in den Krisenjahren wegen der hohen Kosten verringert hatten, die Uhrenkrise vermehrt auch Auswirkungen auf dem Lehrstellenmarkt hatte.

Schon früh begann das Arbeitsamt deshalb in Zusammenarbeit mit der Ausbildungslehrwerkstatt der Fa. Winkler mit Weiterqualifizierungsmaßnahmen im Arbeitsamtsbezirk. 1970 wurde bei Winkler mit der Umschulung „vom Landwirt zum Mechaniker“ begonnen. Ab 1972 gab es berufsbegleitende Weiterbildungsmaßnahmen „vom Angelernten zum Facharbeiter“, seit 1975 Grundausbildungslehrgänge „von der Jugendarbeitslosigkeit zur Beschäftigung“. ((Winkler-Ausbeildungs GmbH, BZT (Hrsg.) Bildung-Zukunft-Technologie. Villingen-Schwenningen 2003, S. 2))  Ende der 70er Jahre kamen die geburtenstarken  Jahrgänge aus der Schule ((SAVS 1.16-11501, IG Metall Verwaltungsstelle Villingen-Schwenningen, Geschäftsbericht 1978-79-80. S. 27))

Die Nachfrage nach  Ausbildungsplätzen stieg deshalb zwischen 1975 und 1979 um 87 Prozent. Das Angebot hingegen ging zwischen 1974 und 1977 um 54 Prozent zurück. ((  SAVS 1.16 – 11501, Forschungsgruppe Jungarbeiter: Jungarbeiter im Schwarzwald-Baar-Kreis. Kurzfassung eines wissenschaftlichen Gutachten, erstellt im Auftrag des Schwarzwald-Baar-Kreises., vorgelegt am 3. Juni 1980, S. 10))

1981 waren über 10 Prozent aller Arbeitslosen jünger als 20 Jahre. ((Billing, Horst (Hrsg.): Strukturbericht 1993 Arbeitsamt Villingen-Schwenningen, S. 81))  Etwa sieben Prozent aller Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren  hatten keinen Ausbildungsplatz, 66 Prozent der betroffenen Jugendlichen waren Mädchen und 15 Prozent Ausländer. 47 Prozent hatten keinen Hauptschulabschluss. ((Von 762 erfassten Jungarbeitern))  Über berufsvorbereitende Lehrgänge bei den Firmen Winkler KG und SABA AG versuchten der Landkreis und das Arbeitsamt ((Ebd. S. 18))

die Jugendarbeitslosigkeit von sieben Prozent auf zwei bis drei Prozent zu senken. ((Ebd. S. 25))

Zwischen 1975 und 1980 nahmen 427 Jugendliche des Kreises an solchen Lehrgängen teil. ((Ebd. S. 28 )) Problemgruppen unter den Schulabgängern konnten nicht mehr ausreichend berücksichtigt werden. Man befürchtete, dass diese in kriminelle bzw. in Drogenmilieus abgleiten könnten. ((SAVS 1.16 – 11501, Anhang zum Schreiben des Landrats vom 27.11.1980 an die Mitglieder und Gäste des Arbeitskreises für Wirtschaftsfragen. Betr. Untersuchung zur Situation der Jungarbeiter im Schwarzwald-Baar-Kreis.))

Über  besondere Betreuungsmaßnahmen des Arbeitsamts und der sozialen Betreuungsstelle des Landkreises sowie dem Verein für Jugendhilfe im Schwarzwald-Baar-Kreis wurde der Einstieg in die Arbeitswelt auch für diese Jugendlichen verbessert. ((Ebd.))

Mehr Dienstleistung - mehr Qualifizierung - Sozialgeschichte der Uhrenindustrie am 18. Dezember 2019 um 14:17 Uhr

[…] den Wirtschaftskrisen 1975, 1983 und 1993 nahm die Arbeitslosigkeit stetig zu und ließ in den Erholungsphasen eine immer höhere Sockelarbeitslosigkeit zurück. Wir […]

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