Sozialgeschichte der Uhrenindustrie

Bildung und Wirtschaft

geschrieben am: 16.01.2018 von: Annemarie Conradt-Mach in Kategorie(n): Bildung/Ausbildung
Frauenarbeit in der Uhrenfabrik Mauthe 60er Jahre

Frauenarbeit in der Uhrenfabrik Mauthe 60er Jahre

Gerade die Wirtschaft war an einer besseren Schulbildung interessiert. „Die Bildungsökonomie hat in der letzten Zeit mehrfach auf den langfristig wirksamen hohen Bedarf an Fachkräften mit qualifizierter Ausbildung aufmerksam gemacht, ein Bedarf, der befriedigt werden muss, wenn der wissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Fortschritt gesichert werden soll“. Die Einsicht setzte sich durch, dass Bildungsinvestitionen nach den Forschungsergebnissen zugleich auch Vorbedingung für wirtschaftliche Prosperität, für den steigenden Volkswohlstand waren. Der Ausbau des Bildungswesens wurde „zur Existenzfrage der Nation.“1

Die Wirtschaft verlangte mehr Akademiker und besser ausgebildete Fachkräfte: „Während die Arbeitskräfte insgesamt zwischen 1961 und 1981 in Baden-Württemberg nur um 12,8 % steigen, wächst der Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften – ohne Lehrer – um 41,1 %, darunter der Bedarf an Akademikern – ohne Lehrer –allein um 56,3 %“. Der Anteil der Hochschulabsolventen an den Erwerbstätigen sollte von 2 Prozent im Jahre 1961 auf 4 % im Jahre 1981 steigen.2   Der Anteil an Abiturienten eines Altersjahrgangs sollte auf 15 % steigen und der Anteil an Absolventen mit mittlerem Abschluss auf 40 % eines Altersjahrgangs.3

Die Bildungspolitiker nahmen jetzt endlich zur Kenntnis, dass Wirtschaft und Technik bisher nicht als „gleichberechtigte Bildungsgüter“ neben den „bisherigen überwiegend theoretisch-geisteswissenschaftlichen Fragestellungen anerkannt“ wurden.4

Deshalb forderte Kultusminister Hahn 1968, das Bildungswesen müsse aus seiner „Abwehrstellung gegen die moderne Arbeitswelt“ herausgeführt werden. Diese Kluft sollte nach seiner Ansicht über den Ausbau der Berufsfachschulen und der beruflichen Gymnasien überwunden werden.5

Rund 80 Prozent aller Jugendlichen in Baden-Württemberg besuchten damals eine Berufsschule, das galt auch für diejenigen jungen Menschen, die ohne eine besondere Berufsausbildung in die Arbeitswelt eintraten.6

Die beruflichen Schulen waren den meisten vertraut, deshalb war es gerade die Aufgabe der beruflichen Schulen „das Bildungswesen insgesamt zu demokratisieren.“7

Doch die Situation der beruflichen Schulen war in der Nachkriegszeit auch nicht besser als die der allgemeinbildenden Schulen. Die Berufsschule sei ein „organisiertes Chaos“8  stellten Kritiker 1952 fest. Gute Berufsausbildung sei abhängig vom Raum bzw. dem Standort und dem Zufall. Es gab Schulen, an denen alle Berufe zusammen in einer Klasse unterrichtet wurden. Die Möglichkeiten, in Fachklassen unterrichtet zu werden, hatten zum Beispiel im kaufmännischen Bereich in Nordbaden 61,2 Prozent in Südwürttemberg Hohenzollern nur 24,0 Prozent der Lehrlinge. Es gab einen Berufsschultag in der Woche.9  Der Berufsschultag zählte damals acht Unterrichtsstunden.

Besonders kritisch gesehen wurde die mangelhafte Mädchenausbildung. „Nach den Berichten des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg (1965) waren 34.4 % aller Berufsschülerinnen kein Lehrverhältnis eingegangen“. Es gebe die verbreitete Einstellung, in die Ausbildung von Mädchen zu investieren sei eine Fehlinvestition, da diese durch Heirat aus dem Berufsleben ausscheiden würden. Lebensziel sei Ehefrau und Mutter. Berufstätigkeit sei eine vorübergehende Erscheinung. Sozialer Aufstieg bei Frauen sei nur durch Heirat möglich. Die Autoren des Berichts stellten fest, den Frauen sei nicht bewusst, dass gerade auch Arbeiterinnen nach der Heirat im Betrieb weiterarbeiteten trotz Doppelbelastung.10

Eine Fabrikarbeiterin berichtete der Verfasserin:

„Bei uns daheim hat der Vater gesagt, die Buben dürfen etwas lernen und ihr (die Mädchen) geht in die Fabrik. Und da war halt Kienzle angesagt und dann bin ich eben zu Kienzle (-Uhren) gegangen.

Als Hilfsarbeiterin habe ich fünf Jahre lang „uf de Weckerle“ gschaffet und dann bin ich zwei Jahre in einen Haushalt gegangen. 1960 bin ich wieder zu Kienzle. Meine Schwester ist auch von so einer kleinen Firma zu Kienzle gegangen, weil „der Pulver“ gestimmt hat. … In der hinteren (Fabrik), da haben sie angefangen mit den kleinen Damen-Armbanduhren, dann bin ich da drauf gekommen auf die Armbanduhren. Ich habe da müssen feine Arbeiten machen. Ich habe gerne gezeichnet, ich hätte gerne etwas mit Zeichnen gemacht. … Bei uns hat es halt immer geheißen, ihr geht in die Fabrik, Kostgeld abgeben, die Brüder durften lernen, aber wir sind halt in die Fabrik.“

Besonders merkwürdig aus heutiger Sicht war, dass damals Jungarbeiterinnen der Uhrenfabrik Kienzle in Schwenningen die Land- und Hauswirtschaftliche Berufsschule besuchen mussten, auf ihre berufliche Tätigkeit in der Uhrenindustrie wurde in der Berufsschule keine Rücksicht genommen.

„Wir haben in die Kochschule müssen, wie man gesagt hat, die war in der Karlstrasse, da hat man müssen das Kochen lernen. Man musste einmal in der Woche hin. Da haben wir immer ein Zeugnis bekommen und (der Betriebsleiter) und der Vater mussten das unterschreiben.“

Zeugnisfächer eines Abschlusszeugnisses für Hilfsarbeiterinnen der Firma Kienzle-Uhren

Zeugnisfächer eines Abschlusszeugnisses für Hilfsarbeiterinnen der Firma Kienzle-Uhren 1956

Folgende Ziele wurden deshalb für die Reform des beruflichen Schulwesens festgelegt:

  1. Struktureller und regionaler Ausbau des beruflichen Schulwesens, Schaffung von leistungsfähigen Schuleinheiten.
  2. Erhöhung der horizontalen und vertikalen Durchlässigkeit.
  3. Einrichtung möglichst homogener Fachklassen, organisiert nach einem System von Grund- und Fachstufe in der Lehrlingsausbildung.
  4. Förderung der individuellen Begabungen über Wahlpflichtfächer und freiwillige Wahlfächer.
  5. Ausbau der 2-jährigen Berufsfachschulen, um die Hauptschule zu stärken und die Realschulen und die Gymnasien zu entlasten.
  6. Aufbau von Beruflichen Gymnasien, die  den Berufsfachschülern und Realschülern einen Weg zum Abitur ermöglichen sollten.11
  1. Ebd. S. I / 7 []
  2. Ebd. S. I/8-9 []
  3. Ebd. Siehe auch KuU 1965 S. 594 []
  4. Prof. Dr. Wilhelm Hahn, Berufliche Bildung in der Welt von Morgen. In:  Georg Rothe, berufliche Bildung in Stufen. Modellstudie zur Neuordnung der Berufsschulen in Baden-Württemberg dargestellt am Raum Schwarzwald-Baar-heuberg. In: Bildung in neuer Sicht. Schriftenreihe des Kultusministeriums Baden-Württemberg zur Bildungsforschung-Bildungsplanung- Bildungspolitik. Villingen 1968 S. XVII []
  5. Ebd. S. XV []
  6. Prof. Dr. Wilhelm Hahn, Berufliche Bildung in der Welt von Morgen. In:  Georg Rothe, berufliche Bildung in Stufen. Modellstudie zur Neuordnung der Berufsschulen in Baden-Württemberg dargestellt am Raum Schwarzwald-Baar-heuberg. In: Bildung in neuer Sicht. Schriftenreihe des Kultusministeriums Baden-Württemberg zur Bildungsforschung-Bildungsplanung- Bildungspolitik. Villingen 1968 S. XIII []
  7.  Ebd. S. XIV []
  8. P. Luchtenberg, Die Berufsschule im geistigen Ringen der Gegenwart. In: Die berufsbildende Schule. Jg.4 1952.H 7/8 S. 317.  Zitiert nach :  Georg Rothe, Berufliche Bildung in Stufen. Modellstudie zur Neuordnung der Berufsschulen in Baden-Württemberg dargestellt am Raum Schwarzwald-Baar-Heuberg. In: Bildung in neuer Sicht. Schriftenreihe des Kultusministeriums Baden-Württemberg zur Bildungsforschung-Bildungsplanung- Bildungspolitik. Villingen 1968, S. XXIII []
  9. Ebd.  S. XV []
  10. Georg Rothe, berufliche Bildung in Stufen. Modellstudie zur Neuordnung der Berufsschulen in Baden-Württemberg dargestellt am Raum Schwarzwald-Baar-heuberg. In: Bildung in neuer Sicht. Schriftenreihe des Kultusministeriums Baden-Württemberg zur Bildungsforschung-Bildungsplanung- Bildungspolitik. Villingen 1968,  S. 227 []
  11. Prof. Dr. Wilhelm Hahn, Berufliche Bildung in der Welt von Morgen. In:  Georg Rothe, berufliche Bildung in Stufen. Modellstudie zur Neuordnung der Berufsschulen in Baden-Württemberg dargestellt am Raum Schwarzwald-Baar-heuberg. In: Bildung in neuer Sicht. Schriftenreihe des Kultusministeriums Baden-Württemberg zur Bildungsforschung-Bildungsplanung- Bildungspolitik. Villingen 1968,  S.XXf []

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