Die Reform der Hauptschule
Jedem jungen Menschen eine begabungsgemäße Ausbildung!
Am 19. März 1964 debattierte der Landtag von Baden-Württemberg über Pichts Artikelserie in „Christ und Welt“. Kultusminister Storz widersprach der These, es gebe Begabungsreserven und behauptete, eine Verdoppelung der Abiturientenzahlen von 1960 6,8 Prozent1 eines Schülerjahrgangs könne ohne Niveausenkung nicht erreicht werden. Er misstraute den von den Bildungsökonomen vorgelegten Statistiken.
Nach den Landtagswahlen 1964 wurde der Kultusminister abgelöst. Nachfolger wurde Wilhelm Hahn. In der Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger vom 25.6 1964 wurde Bildung zum wichtigen Programmpunkt für die Politik der nächsten Jahre. In der Erklärung stand: „Jedem jungen Menschen soll entsprechend dem Auftrag der Verfassung eine seiner Begabung gemäße Erziehung und Ausbildung ermöglicht werden, ohne Rücksicht auf Herkunft und wirtschaftliche Lage.“ Weiteres Ziel einer Bildungsreform war, den Bedarf einer modernen Gesellschaft an qualifizierten Arbeitskräften zu decken. Man wollte nicht möglichst viele Kinder möglichst lange in „bessere Schulen“, sondern jedes Kind auf die „richtige“ Schule schicken.
Für Baden Württemberg bedeutete dies, dass vor allem „das regionale und soziale Bildungsgefälle“ abgebaut werden musste, „um die Zufälligkeiten der Standortnachteile und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht möglichst“ auszuräumen.2
Die meisten jungen Menschen besuchten damals noch die Volksschule, deshalb war es notwendig die Qualität dieser Schulart zu verbessern. Der „begabten Hauptschüler“ sollte die Möglichkeit erhalten „ohne erschwerende Umstände des sog. Zweiten Bildungsweges zu mittleren und höheren Qualifikationen“ zu kommen. Der neue Kultusminister war überzeugt, dies könne aber nur durch die Weiterentwicklung des beruflichen Schulwesens und durch „Durchlässigkeit“ des Schulwesens erreicht werden. „ Schulische Abschlüsse müss[t]en Weiterqualifikationen ermöglichen.“3
Die Schulreform verlange einen hohen (vor allem auch finanziellen) Einsatz. Bildung sei aber „existenzieller Faktor“ im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft4 , weshalb der Einsatz gerechtfertigt sei. Grundsätzlich bedeuteten die neuen Bildungspläne die Abschaffung der damals noch bestehenden einklassigen Volksschulen auf den Dörfern und die gleichzeitige Konzentration von Nachbarschaftsschulen als leistungsfähige Einheiten.
1958 gab es im Landkreis Villingen 37 Prozent einklassige Volksschulen
Noch 1958 war auch in unserer Region die einklassige Volksschule verbreitet, in der alle Jahrgänge oft gleichzeitig von einem Lehrer unterrichtet wurden. Der Landkreis Donaueschingen hatte 1958 43 Prozent Einklassen-Volksschulen, der Landkreis Villingen 37 Prozent, der Landkreis Neustadt 58 Prozent und der Landkreis Waldshut 63 Prozent Ein-Lehrer-Schulen.5
1958 kamen im Schulkreis Villingen 39 Schüler auf einen Lehrer. An den 102 Schulorten des Schulkreises (der sich aus den Landkreisen Villingen und Donaueschingen zusammensetzte) waren an 35 Schulorten zwei Lehrkräfte, an 11 Orten drei und vier Lehrkräfte, an 7 Orten fünf bis zehn Lehrer und in neun Städten mehr als zehn Lehrer, wobei Villingen mit 52 Lehrkräften am besten dastand. Donaueschingen hatte 18 Lehrer. Zusätzlich gab es aber 42 Einlehrerschulen.6 An vielen Orten war deshalb ein qualifizierter Fachunterricht und Unterricht nach Jahrgangsstufen gar nicht möglich.
Wichtig für die Umsetzung der geplanten Reformen war vor allem die Ausbildung genügend qualifizierter Lehrer. „Von 1955 bis 1968 wurden die Lehrerstellen in Baden-Württemberg von 29 423 auf 48 579 vermehrt, “ was einem Anwachsen von 65,1 Prozent entsprach. Die Stellenzuwächse des Landes flossen überwiegend in Lehrerstellen.7
„Bei rund 4000 in Baden-Württemberg bestehenden öffentlichen und privaten Volksschulen trat zum 1. Dezember 1966 aus 717 Schulen kein einziges Kind in eine Realschule bzw. in ein Gymnasium über“. Bei diesen Volksschulen handelte es sich vor allem um Schulen in ländlichen Bezirken. Bei Volksschulen in Großstädten war die niedrigste Übertrittsquote 9 Prozent und die höchste 78 Prozent. Daran konnte wohl kaum der Begabungsstand der Schüler schuld sein, sondern ein regionales und ein soziales Bildungsgefälle, welches reduziert werden musste.8
Nach den Überlegungen des Bildungsforschers Preisert9 sollten etwa 14.8 Prozent aller 16-19jährigen eines Altersjahrgangs noch weiterführende Schulen besuchen. Dieses Ziel wurde aber gerade in ländlichen oft katholischen Regionen10 nicht erreicht. In diesen Gebieten Baden-Württembergs besuchte zwischen 1 und 3,8 Prozent eine höhere Schule.11
Übertritte auf weiterführende Schulen 1965 in ausgewählten Landkreisen in Prozent der Jahrgangsstufe 4
Region/ Kreis | Gymnasium | Realschule | Gesamt |
---|---|---|---|
Freiburg | 34,0 | 21,5 | 55,5 |
Baden-Baden | 40,3 | 15,6 | 55,9 |
Donaueschingen | 19,9 | 8,0 | 27,9 |
Villingen | 26,9 | 9,9 | 36,9 |
Waldshut | 11,7 | 7,8 | 19,5 |
Rottweil | 24,9 | 8,2 | 33,1 |
Stuttgart | 36,0 | 26,0 | 62,0 |
Eine Analyse der Lage in den Volksschulen ergab, dass 36,5 Prozent bis 41 Prozent aller Kinder für einen Übertritt an eine höhere Schule geeignet seien.12
Ein weiteres Ergebnis war, dass einklassige Grundschulen geringere Übertrittsqoten als vierklassige hätten.13 Gründe, weshalb nur so wenige Kinder nicht auf die höheren Schulen angemeldet wurden, waren, dass vielen Familien das Geld für die Schule14 fehlte, dass sie auf die Arbeitskraft der Jugendlichen angewiesen waren, diese sollten möglichst schnell Geld verdienen. Gründe waren aber auch oft die schlechten Verkehrsverbindungen und weil die Eltern sich nicht in der Lage sahen ihren Kindern bei Schulproblemen zu helfen.15
Sogenannte „Bildungsnotstandsgebiete“ zeichneten sich durch einen hohen Anteil an Land- und Forstwirtschaft mit geringen Erträgen aus, die Gemeinden waren klein und hatten eine niedrige Steuerkraft, die Verkehrsverhältnisse waren schlecht, die Einstellungen der Bevölkerung waren eher konservativ-traditionell, oft waren diese Gebiete katholisch geprägt.16
In Regionen geringer Bildungsdichte wurden Bildungsberatungen eingeführt. Die ehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen Rita Grießhaber erinnerte sich, dass damals Studenten in die Volksschulen gekommen seien und für die höheren Schulen geworben hätten.
Für die Schulreform fehlten Lehrer und Klassenräume. Die durchschnittliche Klassenstärke betrug zum Beispiel in Villingen am 10.5. 1960 40 Schüler.
1959 traten an den Volksschulen der Stadt Villingen nur 22 Prozent der Schüler der 4. und 5. Klassen auf eine höhere Schule über. Nicht alle befürworteten eine Vermehrung der Realschüler und der Gymnasiasten. Für Karl Brachat17 waren diese Übertritte auch ein Substanzverlust der Volksschulen.18 „Es werfe sich die Frage auf, welches der Grund für diese enorme Abwanderung von der Volksschule zur Mittelschule sei. Der eine Grund liege auf der Elternseite, die ihre Kinder zur Erweiterung ihres Wissens und ihrer Bildung in die höhere Schule schicken. In Villingen entfalle der höchste Prozentsatz in der Mittelschule auf Kinder von Heimatvertriebenen.“19 In der Schaffung eines neunten Schuljahrs sah Karl Brachat eine Stärkung der Hauptschule.
Ein besonderes Augenmerk müsse auf die Einführung des 9. Schuljahres – wie dies in einigen Städten von Baden-Württemberg auf freiwilliger Basis der Fall ist –gerichtet werden. Auch in Villingen wären für die Einführung des 9. Schuljahres auf freiwilliger Basis genug Interessenten vorhanden. Die Einführung ließe sich jedoch nicht ermöglichen, da die entsprechenden Räume hierfür nicht vorhanden seien. Die Klassenstärke sei im Durchschnitt 35 bei der Volksschule. Die maximale Stärke einer Klasse sei 45, die minimale Stärke 25. Es müsse erreicht werden, die Klassenstärken von 35 auf 30 Schüler herunterzudrücken; dies erfordere jedoch wieder mehr Lehrkräfte. Villingen habe aber 1959 in Baden-Württemberg „die meisten Fehlstellen an Lehrern“.20
Die Reform der Volksschule
Die Schulreform vom 5. Mai 1964 sah ein erhöhtes Bildungsangebot auf allen Stufen des Bildungswesens vor. Die Erschließung der Bildungsreserven konnte unter den damaligen Verhältnissen aber nur über die Hauptschulen erfolgen.21 Dies bedeutete, dass der Bildungsauftrag der Hauptschulen erweitert werden musste, um das Niveau des Hauptschulabschlusses zu erhöhen. Notwendig wurde die Durchlässigkeit der Hauptschule zu anderen Schularten. Voraussetzung für diese Bildungsziele war die Einführung einer Fremdsprache in der Hauptschule. Dadurch wurde der Weg für begabte und bildungswillige Hauptschüler für den Besuch einer Berufsfachschule eröffnet, die zur Fachschulreife führte. Die Fachschulreife wurde dann zur Eingangsvoraussetzung an die beruflichen Gymnasien. Der Klassenteiler für die Hauptschule wurde auf 35 Schülern festgelegt.22
1965 wurden in Baden-Württemberg lediglich 53 Prozent der Hauptschüler in Jahrgangsklassen unterrichtet, 1967/68 waren es bereits 89,5 Prozent, 1970/71 sollten es nach den Plänen von 1968 99 Prozent aller Hauptschüler sein.23
Aus 3935 Hauptschulen 1965 sollten bis 1970 1434 mehrzügige Nachbarschaftsschulen werden.24
Durch die Zusammenlegung von Hauptschulen zu Nachbarschaftsschulen nahmen die Schülerbeförderungskosten von 1965 8,5 Mio DM auf 1967 35,4 Mio DM zu.25
Die Hauptschulreform mit ihren größeren Schuleinheiten führte auch zur Einführung der christlichen Gemeinschaftsschule für ganz Baden-Württemberg. Durch Gesetz v. 8. Februar 1967 wurde Artikel 15 der Landesverfassung geändert und die christliche Gemeinschaftsschule für ganz Baden-Württemberg eingeführt. Das heißt zu diesem Zeitpunkt wurde die bis dahin in Schwenningen (Südwürttemberg-Hohenzollern) noch bestehende Konfessionsschule abgeschafft.26
In den 60er Jahren war es üblich, dass viele junge Menschen ein Gymnasium besuchten, um nach der 10. Klasse diese Schule mit der mittleren Reife zu verlassen. Ein mittlerer Bildungsabschluss sollte jetzt vor allem über die Realschule erreicht werden und nicht durch einen Abbruch der Gymnasialen Ausbildung nach der mittleren Reife, oder wie es damals hieß, dem „Einjährigen“.27
- Georg Picht, Die deutsche Bildungskatastrophe. Freiburg 1964 S.25 [↩]
- Prof. Dr. Wilhelm Hahn: Planen und Handeln – Schulreform in Baden-Württemberg. In: Kultusministerium Baden-Württember (Hrsg.) Schulentwicklungsplan Baden-Württemberg. Verwirklichung des ersten Abschnitts. Grundschule. Hauptschule. Sonderschule. Realschule. Gymnasium. Villingen 1968. S. XI [↩]
- Ebd. S. XII [↩]
- Ebd. S. XIII [↩]
- Schwarzwälder Bote v. 25.7 1958. [↩]
- Ebd. [↩]
- Prof. Dr. Wilhelm Hahn: Planen und Handeln – Schulreform in Baden-Württemberg. In: Kultusministerium Baden-Württember (Hrsg.) Schulentwicklungsplan Baden-Württemberg. Verwirklichung des ersten Abschnitts. Grundschule. Hauptschule. Sonderschule. Realschule. Gymnasium. Villingen 1968. S.XIV [↩]
- Ebd. S. I/5 [↩]
- Hansgert Preisert: Soziale Lage und Bildungschancen in Deutschland. München 1967 [↩]
- Merkmale bildungsschwacher Regionen seien große Flächenausdehnung, ungünstiger Bevölkerungsaufbau, agrarische Strukturierung (1/3 arbeiten in land- und Forstwirtschaft), überwiegend katholisch (2/3 der Bevölkerung). [↩]
- Ebd. S. I/5 [↩]
- Ebd. S. I/6 [↩]
- Ebd. S. I/7 vierklassige Grundschulen haben eine Übertrittsquote von 34,5 %, einklassige von nur 20,3 % [↩]
- Schulgeld, Bücher [↩]
- Ebd. S. I/ 11 [↩]
- Ebd. S. I/ 5 [↩]
- Karl Brachat war von 1949 bis 1961 Rektor, Schulrat und Oberschulrat in Villingen. 1966 erfolgte sein Eintritt in den Ruhestand. Er schloss sich 1946 den Christdemokraten an und war von 1949 bis 1965 Vorsitzender des CDU-Kreisverbandes Villingen. Von 1952 bis 1953 war er Mitglied der Verfassunggebenden [↩]
- Auszug aus der öffentlichen Sitzung des Gemeinderates am 30. 6.1959 S. 93 [↩]
- Ebd. [↩]
- Ebd. S. 94 [↩]
- Ges. Bl. V. 9.Mai 1964 a.a.O. S. I/13 Einführung der Hauptschule v. 10.3.1965 KuU S. 308/ 1965 [↩]
- Prof. Dr. Wilhelm Hahn: Planen und Handeln – Schulreform in Baden-Württemberg. In: Kultusministerium Baden-Württemberg (Hrsg.) Schulentwicklungsplan Baden-Württemberg. Verwirklichung des ersten Abschnitts. Grundschule. Hauptschule. Sonderschule. Realschule. Gymnasium. Villingen 1968. S. I/75 [↩]
- Ebd. S. XV. Diese Veränderungen bedeuteten aber, dass in ländlichen Gebieten, Fahrschüler akzeptiert werden mussten 1967/68 gab es 23,4 % Fahrschüler an HS. [↩]
- Ebd. [↩]
- Kultusministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Schulentwicklungsplan Baden-Württemberg. Verwirklichung des ersten Abschnitts. Grundschule. Hauptschule. Sonderschule. Realschule. Gymnasium. Villingen 1968 S. I/24 [↩]
- „Die öffentlichen Volksschulen (Grund- und Hauptschulen) haben die Schulform der christlichen Gemeinschaftsschule nach den Grundsätzen der Bestimmungen, die am 9. Dezember 1951 in Baden für die Simultanschule mit christlichem Charakter gegolten haben.“ [↩]
- Kultusministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Schulentwicklungsplan Baden-Württemberg. Verwirklichung des ersten Abschnitts. Grundschule. Hauptschule. Sonderschule. Realschule. Gymnasium. Villingen 1968 S. XV [↩]