Mannesmann verkauft an Digital
Neues Unternehmen: Digital Kienzle
Wettbewerber aus den USA und Japan machten den deutschen EDV-Herstellern das Leben schwer. Mannesmann überlegte deshalb, das Geschäftsfeld Datensysteme zu vergrößern, um wettbewerbsfähiger zu werden. (( Nach Armin Müller, S. 117))
Am 24.9.1990 bestätigte der Mannesmann-Konzern der Badischen Zeitung „daß über eine Partnerschaft für die Datentechnik seit einigen Monaten unter anderem mit dem US-Elektronikkonzern AT+T, dem seit einigen Monaten zur japanischen Fujitsu gehörenden britischen ICL-Konzern sowie mit der Siemens AG verhandelt worden sei. ((StAVS Chronik 7535, BZ v. 25.9.1990, Entscheidung über Kienzle soll bald fallen.)) Selbst in der Bild-Zeitung stand am 24.9.1990 „Wird Kienzle verkauft? 4000 bangen jetzt um ihren Job.“ (( Armin Müller S. 120)) Nach einer Aufsichtsratssitzung der Mannesmann AG am 19. 12. 1990 wurde der US-Computerhersteller DEC (Digital Equipment Corporation) als Partner vorgestellt. (( Armin Müller S. 122))
Zum 1. Januar 1991 sollte das neue Unternehmen Digital-Kienzle GmbH und Co KG entstehen mit in Villingen 2500 Mitarbeitern. Im Februar wurde der Verkauf an DEC vom Kartellamt genehmigt. Aber bereits im Januar 1992 übernahm DEC alle Anteile an Digital Kienzle. (( Armin Müller S. 124))
Grundsätzlich veränderte der Verkauf von Kienzle Datentechnik an den amerikanischen Konzern wenig an der schwierigen Lage des EDV-Unternehmens. Die Probleme blieben. In einer Betriebsversammlung vom 25.9.1992 diskutierten die Anwesenden, die frühere MDT (mittlere Datentechnik) werde von oben durch die billiger werdenden Großrechner und von unten durch die immer leistungsfähiger werdenden PCs und Workstations in die Zange genommen. (( StAVS Ordner: IGM Digital II Betriebsversammlung Ende 1992 – Handschriftlich. – 25.9.1992 S. 5))
Der Trend zur Standardisierung erlaube den EDV-Herstellern immer weniger technische Alleingänge, mache ihre Produkte immer vergleichbarer und erschwere damit zunehmend die früher übliche autonome Preispolitik einzelner Anbieter. Seit dem der Computer zur Massenware geworden sei, gebe es einen ruinösen Wettbewerb durch Preisdruck einerseits und durch wachsende Entwicklungskosten bei kürzeren Produktzyklen andererseits. (( A.a.O. S. 6))
DEC wollte deshalb weltweit bis Jahresende 1992 15 000 Arbeitsplätze abbauen. Die IG Metall hingegen forderte einen Haustarifvertrag, der die von Kündigung bedrohten Digital-Arbeitnehmer besser schütze, den Beschäftigten im Unternehmen andere Arbeitsplätze anbiete, sie weiterqualifiziere, anstatt sie zu entlassen. (( StAVS Ordner: IGM Digital II, Beim EDV-Riesen geht die Angst um. Offenbach-Post 2.3.4. Oktober 1992, Wackeln bei Digital die Arbeitsplätze.))
Mit dem deutschen Arbeitsrecht taten sich die Amerikaner schwer. Digital sei ein amerikanisches Unternehmen, so ein Gewerkschafter, „das sich in Europa nicht reinreden lassen will. Man akzeptiert zwar in Deutschland die Betriebsverfassung, aber dies müsse ja nicht noch europaweit gefördert werden.“ (( StAVS Ordner: IGM Digital I, Telefax v. 28.10.1992 der deutschen Angestelltengewerkschaft. Manuskript eines Artikels: Elektromulti Digital/ Europäischer Betriebsrat gegründet.))
Die Amerikaner erwarteten einen bestimmten Umsatz pro Quartal. „Ist dieser niedriger als im Plan vorgesehen, werden die Arbeitnehmer reduziert.“
Digital baut Arbeitsplätze ab
Am 17.Dezember 1992 sollten deshalb in allen deutschen Betrieben Betriebsversammlungen stattfinden. (( StAVS Ordner: IGM Digital II, Thomas Klebe (IGM Vorstand) Information zur Digital Equipment GmbH v. 3.11.1992))
In seiner Rede betonte der Betriebsratsvorsitzende Peter Theo Ruf ((A.a.O. Referat: Peter Theo Ruf v. 16.12.92 / Betriebsversammlung am 17.12.92 Letzte BV im Kalenderjahr 92)) , im Geschäftsfeld EDV sei nach dem Aufschwung Ost ein „gravierender wirtschaftlicher Abschwung“ gekommen. (( a.a.O. S. 3))
Leider müsse man mit einem weiteren Personalabbau rechnen.
Die IG Metall befürchtete, dass in Deutschland mittelfristig etwa 500 000 Arbeitsplätze in der EDV-Branche gefährdet seien. (( A.a.O. Presse-und Funk-Nachrichten IGM v. 18. Januar 1993, Süddeutsche Zeitung v. 15.1.1993, IG Metall befürchtet Absturz der EDV-Industrie. Ein Drittel der Arbeitsplätze bedroht.))
Es sei „ein schändliches Spiel mit der Angst der Menschen um ihre Arbeitsplätze“, was hier stattfinde. Über eine Holding-Struktur der deutschen Digitaltöchter glaubte das Unternehmen DEC die Situation schnell verbessern zu können. „Insgesamt [wollte] der weltweit viertgrößte Computer Konzern (Jahresumsatz 1991/92: 13,9 Milliarden US-Dollar, Verlust: 2,8 Milliarden US-Dollar) mit neuen Strukturen aus dem Tal der roten Zahlen herausfinden… Die drei Konzerntöchter München, Kaufbeuren und Villingen-Schwenningen schafften im Vorjahr zwar einen Umsatz von 2,5 Milliarden, fuhren aber gleichzeitig einen Verlust von 150 Millionen Mark ein.“ Die Kosten müssten dringend – wieder einmal- gesenkt werden. (( A.a.O. Neue Strukturen bei Kienzle, Dirkmann jetzt als „Länderchef“ für Villingen verantwortlich – heute Betriebsversammlung))
Über die Neuorganisation wurden die Mitarbeiter in einer Betriebsversammlung im Mai 1993 informiert. Der Villinger Betriebsrat befürchtete, dass dadurch Nachteile für die rund 1000 Villinger Kollegen entstehen könnten, wenn sie einer der neuen Teilfirmen zugeordnet würden. ((StAVS Ordner: IGM Digital II, Südkurier vom 8.6.1993, Kienzle bald ein Teil von Digital/ Digital baut ein deutsches Dach. Der Gesamtbetriebsratsvorsitzende, Dieter Jung, in München machte alle IGM-Mitglieder auf die möglichen Gefahren der Neugliederung aufmerksam. Wenn z.B,. ehemalige Kienzle-Mitarbeiter an eine nicht tarifgebundene Konzerntochter versetzt würden, würde ihre Tarifbindung nach einem Jahr beendet werden, weshalb die IGM einen einheitlichen Tarifvertrag für ganz Deutschland anstrebte.))
Digital beteuerte hingegen, die geplanten Veränderungen sollten nur die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens verbessern. (( A.a.O. Schreiben der IGM-Bezirksleitung München an die IGM Verwaltungsstellen v. 1.6.1993. Ebenso Stgt. Ztg. v. 5.6.1993, Digital Deutschland von Streiks betont. „An den 15 deutschen Standorten der Digital Equipment GmbH der deutschen Töchter des US-Computer-Konzerns drohen Streiks. Wie die IG Metall mitteilte, sind die 3500 Beschäftigten seit Donnerstag aufgerufen, in einer Urabstimmung über den Streik zu entscheiden, mit dem die Forderung nach einem Rationalisierungsschutz-Haustarifvertrag unterstrichen werden soll.“ Hintergrund seien die Neuordnungspläne.))
In einer Urabstimmung stimmten die IGM-Mitglieder bei Digital Deutschland für Streik. (( A.a.O. FAZ v. 8. Juni 1993, Metaller bei Digital stimmen für Streik. Haustarifvertrag gegen die Folgen der Rationalisierung angestrebt.))
Nach zwei Wochen Streik im Werk Hannover ((Dieser Streik ging als Yuppy-Streik in die Geschichte ein, weil es ein Streik war, hinter dem im Wesentlichen schlecht organisierten Akademikern standen.)) , dem sich mehrere Digital-Unternehmen anschlossen, konnte ein Tarifvertrag nach badischem Muster in einem dreitägigen Verhandlungsmarathon für alle deutschen Digital-Mitarbeiter durchgesetzt werden. Dies bedeutete für die betroffenen Beschäftigten eine Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 36 Stunden, einen verbesserten Kündigungsschutz, längeren Erziehungsurlaub und unbezahlte Freistellungen zur Weiterbildung. ((A.a.O. FAZ v. 29.6.1993 Haustarifvertrag bei Digital Equipment. IG Metall setzt Forderungen durch/ Streik beendet.)) Jürgen Martin von der IG Metall in Villingen-Schwenningen betonte vor der Presse, dass er mit dem Abschluss zufrieden sei, schließlich seien erhebliche Verbesserungen erreicht worden. Erstmals sei ein Tarifvertrag in der Computerbranche abgeschlossen worden, erstmals hätten hochqualifizierte Angestellte einen Arbeitskampf erfolgreich durchgeführt. Außerdem sei für die neue Holding eine Betriebsratsstruktur festgeschrieben worden. ((A.a.O. Südkurier v. 29.6.1993, Bei Digital gilt jetzt das „Villinger Modell“. Fachleute von Digital-Kienzle prägten den ersten Tarifvertrag in der Computerindustrie weitgehend. Siehe auch StAVS Ordner: IGM-Digital Betriebsversammlungen II. Rahmenvereinbarung über Interessenausgleich v. 1.10. 1993))
Die Verluste bei Digital gingen zwar zurück, statt 40 nur noch 20 Millionen minus, das reichte der Geschäftsführung aber nicht. Deshalb sollten bei Digital-Kienzle weitere 400 bis 500 Stellen gestrichen werden. ((StAVS 4.9- 870, NQ 16.11.1993))
Personalabbau geht weiter
Da in Villingen zur gleichen Zeit auch der Thomson-Konzern mit Schließung drohte, kam der Ministerpräsident Erwin Teufel nach Villingen, um zu retten, was noch zu retten war. (( StAVS 4.9- 870, Schwabo 25.11.1993))
Erwin Teufel erinnert sich: „Für mich die allerschwierigste Situation, an die ich mich erinnere, das war Kienzle Villingen, eine Firma, die ja glänzend lief über lange Zeit, dann an einen größeren Konzern verkauft worden ist. Dann sollte die Betriebsstätte in Villingen geschlossen werden. Ich bin wieder hingefahren, hab mich angemeldet, bei der Geschäftsleitung, beim Betriebsrat, hab mit beiden gesprochen, das war die Absicht meiner Fahrt. Ich fuhr auf den Hof der Firma in Villingen und da standen mehrere 100 Leute auf dem Hof. Das waren mit die schwierigsten Sekunden, die ich überhaupt erlebt habe. Ich sitze in dem Auto. In dem Moment geht mir natürlich durch den Kopf: wie muss ich die Leute enttäuschen. Was kann ich denen sagen? Ich steige aus, in die gespenstische Situation hinein fangen die Menschen auf einmal an zu klatschen und haben mich so begrüßt. Der Bann war gebrochen und ich habe dann natürlich zu denen gesprochen. Ich konnte keine großen Hoffnungen machen, aber ich hab versprochen, dass das Menschenmögliche geschieht.“ (( Interview mit Erwin Teufel Interview v. 20. 1.2014))
Trotz Ministerpräsident hielt Digital an seinen Personalreduktionsplänen fest. (( StAVS 4.9-870, Südkurier 26.11.1993, Digital ändert Pläne nicht/ Teufel: Alternativen suchen.))
„Die Digital-Equipment-Corporation (DEC) [blieb] dabei, dass der Konzern vollkommen umgekrempelt [werde] und dass in Villingen die Hälfte der knapp 1000 Arbeitsplätze abgebaut [würden].“ (( StAVS 4.9- 870, BZ 26.11.1993, Franz Dannecker: Ministerpräsident wendet Abzugspläne ab. Thomson hält an Standort Villingen fest: 600 Arbeitsplätze gerettet. StAVS 4.9- 871, BZ 4.1.1994, Christina Nack: Krisenjahr für die heimische Wirtschaft/ Bilanz des Schreckens: 1993 wurden 1500 Arbeitsplätze abgebaut.))
Das Management setzte wohl eher auch in Zukunft „auf die Gewinnquelle Personalabbau.“ (( StAVS 4.9- 871, Schwabo 12.2.1994, Ohnmacht versperrt den Blick in die Zukunft. Industrie im Oberzentrum setzt weiter auf Personalabbau/ Dumpingpreise bei Binder.))
Für die nun kommende Computergeneration seien „die altehrwürdigen Kienzle-Rechner aus Villingen, so Aussagen von Konzernmitarbeitern, … nicht geeignet. Sie [seien] im Vergleich zu Alpha AXP-Geräten bessere Schreibmaschinen. Und [würden] aussterben.“ (( StAVS 4.9- 871, NQ 22.3.1994, Digital setzt alles auf eine Karte/ Das schnellste Computerherz/ Warum Kienzle-Rechner keine Zukunft mehr haben.))
Der Europa-Betriebsrat der Firma Digital rief für den 8. Juni zu einer Aktion gegen den permanenten Stellenabbau bei Digital auf. Mit mehreren Bussen wollte man nach Genf zur Europäischen Unternehmenszentrale fahren, „um gegen die unsinnige Unternehmenspolitik zu protestieren.“ (( StAVS 4.9- 871, BZ 7.6.1994, Digital-Belegschaft demonstriert in Genf.))
„Bei weitem die größte Gruppe der Demonstranten kam aus dem Schwarzwald: Rund 150 Kienzleaner nahmen die sechsstündige Busfahrt in Kauf, um das Management wachzurütteln, wie es einer der Demonstranten formulierte“. „Er werde nicht mit den Demonstranten verhandeln, da es für ihn einen europäischen Betriebsrat gar nicht gäbe, ließ Europa-Chef Damiani mitteilen.“ (( StAVS 4.9-871, Südkurier v. 10.6.1994, Stefan Schuler: Vom Chef war nur ein dürres Schreiben da. Voller Bitterkeit kehrten 150 Kienzleaner von Protestfahrt nach Genf zurück))
Heinz H. war als Arbeitnehmervertreter damals dabei: „ Ich bin nicht nur nach München gefahren, ich bin auch nach Genf gefahren. Ich war ja DAGler. Wenn die Firma geschlossen werden soll, da musst Du natürlich mitgehen. Als wir dann in Genf waren vor dieser großen Immobilie. Das hat Eindruck gemacht. Da wurde jedem eine Pfeife gegeben. Das muss man ja erst können. So bin ich nicht veranlagt. Dann musst Du eine Pfeife nehmen und musst da pfeifen.“ (( Interview mit Heinz H. v. 14.8.2015))
Lothar S. Gewerkschaftsmitglied. „Die haben uns in München ja gar nicht reingelassen. Wir sind mit drei oder vier Bussen hin gefahren. Da haben wir ein bisschen Tam Tam gemacht vor dem Hauptgebäude von Digital. Reingelassen haben die nur zwei drei Leute. Da waren wir zum Aufregen! Viel gebracht hat es eigentlich nicht.“ (( Interview mit Lothar S. v. 6.8.2015))
Die deutschen Digital-Gesellschaften kündigten den vor einem Jahr ausgehandelten Tarifvertrag, weil der dort ausgehandelte Sozialplan 1991 unter der Prämisse eines begrenzten Personalabbaus geschlossen worden sei. „Aufgrund der nachhaltigen Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage sehe man sich gezwungen, den Sozialplan zu kündigen, und könne dies nur über den formalen Weg der Tarifvertragskündigung umsetzen.“ (( StAVS 4.9- 871, FAZ v. 2.7.1994, Digital kündigt den Tarifvertrag)) „Bei der Betriebsversammlung am Mittwoch erfuhr die Kienzle Belegschaft, dass 120 Kolleginnen und Kollegen künftig zur Alldata, einem Tochterunternehmen der ARAG-Versicherungskonzerns, gehören werden.“ (( StAVS 4.9-871, BZ v. 2.7. 1994, Christina Nack: Nach Transfer eines Geschäftsbereiches an Alldata/ Digital kündigt Sozialplan fristlos: Indiz für drohendes Aus in Villingen?))
Weltweit wollte „sich Digital aus der Betreuung des Mittelstandes zurückziehen … und diesen Bereich Partnerfirmen überlassen“ (( StAVS 4.9-871, BZ v. 5.7.1994 Christina Nack: Digital demontiert Kienzle. 871 SWP 19.7.1994 Kehrseite der Talfahrt bei Digital. Konzern baut ab, Behlaer Softwarehaus Bäurer übernimmt Mitarbeiter. ))
„Nach einer Betriebsversammlung folgte ein ‚großer Teil der Beschäftigten‘ dem Aufruf der IG Metall und DAG, die Arbeit niederzulegen“ (( StAVS 4.9-871, SWP v. 8.7.1994, Aufruf befolgt/ Warnstreik bei Digital-Kienzle.))
Heinz H. erinnerte sich: „Der Münsterplatz war gerammelt voll. Und zu meiner Überraschung hat mein Chef gefragt, der ja überhaupt kein Gewerkschaftler war, er hat gefragt: gehen Sie da hin? Sag ich: ja selbstverständlich. Sagt er: ich weiß noch nicht. Dann sehe ich auf dem Platz meinen Chef.“ (( Interview mit Heinz H. v. 14.8.2015))