Neue Besen kehren gut?
Mit Mannesmann kam eine neue Philosophie
Heinz H. erinnert sich: „Unter Mannesmann hat sich das Klima verändert. Mit einem neuen Unternehmer kommt eine neue Philosophie, da war es dann nicht mehr ganz so toll. Da kommen in der Regel neue Leute, die alles neu erfinden müssen. Wir dachten, das haben wir doch schon längst alles erfunden. Dann war plötzlich alles falsch. Das müssen sie alles anders machen, hieß es. Dann haben wir gesagt, das haben wir doch schon immer so gemacht. Und dann kommen Persönlichkeiten, die fremd sind, in Führungspositionen. Da ist auch nicht immer das Tollste dabei gewesen.“ (( Interview mit Heinz H. v. 14.8.2015))
„Die Kienzle-Apparate GmbH in Villingen scheint eine neue Heimat für Topmanager anderer Branchenriesen zu werden“, vermutete der Südkurier am 2. 12.1982 ((SAVS Chronik 7535))
„Nach dem Ex-Olivetti-Chef Dr. Francesco Tato kommt jetzt Wilhelm Jägers, Leiter des IBM-Vertriebs ‚Informationssysteme im Bereich Anwendungen.“ Jägers würde Nachfolger von Betriebschef Dr. Gerd Bindels, der das neue Ressort Unternehmensstrategie übernehme. Neben den Veränderungen in der Villinger Führungsetage, wurden als weitere Strukturveränderungen die Reduzierung der 15 selbständigen Kienzle-Töchter auf neun angekündigt.
Für 1982 rechnete das Unternehmen nun mit einer Aufwärtsentwicklung. Der Umsatz der Kienzle-Gruppe habe zugenommen. Verluste gab es immer noch, aber das Defizit hatte sich verringert. Geplant sei, die Verluste 1984 auf Null zu bringen. Die Zahl der Beschäftigten habe sich um vier Prozent verringert. Im Villinger Stammbetrieb gab es zum 31.12.1982 noch 4467 Mitarbeiter. (( SAVS Ordner: IGM-Verwaltungsstelle Kienzle Apparate, BZ v. 27.5.1983, Aufwärtsentwicklung bei Kienzle trotz Verluste.))
Im August 1983 bot der Mannesmann Konzern den Betriebsangehörigen den Kauf von Mannesmann-Aktien an. (( SAVS Chronik 7535, Südkurier v. 27.8.1983.)) Rund 3000 Kienzle-Mitarbeiter ((Bezieht sich auf rund 6000 Mitarbeiter aller Kienzle-Unternehmungen im Mannesmann-Konzern. Siehe auch Südkurier am 27.9.1983 )) wurden Aktionäre. Der Betriebsratsvorsitzende Tonhausen sah dies kritisch. Dem Belegschaftsaktionär werde durch den Kauf seiner fünf Aktien nicht einmal „der Stuhl gehören, auf dem er bei seiner Arbeit sitzt. Und zu sagen wird er auch nichts haben.“… „Droht gar die Pleite [des Unternehmens] verliert der Arbeitnehmer nicht nur seinen Arbeitsplatz, sondern auch seine Ersparnisse, insofern er sie in Belegschaftsaktien angelegt hat.“
Die neue Geschäftsführung leitete einen rigorosen Sparkurs ein. Das Unternehmen wurde radikal daraufhin überprüft, wo Ressourcen eingespart werden könnten. Dazu wurden Abteilungen zusammengelegt oder aufgelöst, und Personal umgesetzt, was erhebliche Unruhen auslöste. Die Folge dieser Maßnahmen sei „ein geringerer Personalbedarf für das gleiche Arbeitsvolumen“, so Tonhausen. Selbst ein überproportionaler Auftragseingang könne die Beschäftigungsprobleme des Unternehmens nicht auffangen. Deshalb gebe es in geringem Umfang immer noch Kurzarbeit. Eine geeignete Maßnahme zur Personalreduktion sah der Betriebsratsvorsitzende Tonhausen in der neuen Regelung einer vorzeitigen Zurruhesetzung, die den Betroffenen die Höhe ihrer erwarteten Rente sicherte, ebenso die geschaffene Nachteilsminderungsregelung. Man müsse über tarifliche Arbeitszeitverkürzung nachdenken, man müsse „die Bedrohung mildern, die den Menschen in Resignation, in kriecherische Anpassung oder auch Depression treibt. Arbeitslosigkeit [sei] auch Arbeitszeitverkürzung.“ (( SAVS Ordner: IGM-Verwaltungsstelle Kienzle Apparate Gesamtbetriebsratssitzung vom 31.8.1983 im Werk D, Rede des BRV Tonhausen.))
Mannesmann- Kienzle: Der Sanierer Francesco Tatò
Zum Jahresende 1983 verließ Hans Erich Bornemann, Mitglied der Geschäftsführung seit 1982, das Unternehmen wieder. Sein Nachfolger wurde Hans Jürgen Storck, vorher bei einer anderen Mannesmann-Tochter beschäftigt. Vorsitzender der Geschäftsleitung war nun Francesco Tato, ((Weitere Mitglieder des Vorstands waren Wilhelm Jägers, Herbert Kleiser und Hans-Jürgen Storck. ))
Aufgabe der neuen Geschäftsleitung sei weiterhin „Kienzle nach Jahren der Verluste im nächsten Jahr wieder in die Gewinnzone zu bringen.“ ((SAVS Chronik 7535, BZ v. 6.12.1983, Die Badische Zeitung berichtete kürzlich bereits ausführlich über die Rationalisierungsmaßnahmen bei Kienzle.))
1984 nahmen die Aufträge für Kienzle erheblich zu, damit auch die Hoffnungen, man komme wieder in die Ertragszone. Ende 1983 zählte die Kienzle-Gruppe noch 8471 Mitarbeiter nach 9172 im Vorjahr. Die Aufträge hatten in den ersten vier Monaten 1984 um 40 Prozent zugenommen. ((StAVS Chronik 7535, Südkurier v. 30.5.1984, Kienzle bringt Mannesmann mehr.)) Zum 31. Oktober 1984 verließ Francesco Tatò kurzfristig und überraschend aus persönlichen Gründen das Unternehmen. Mannesmann habe den ehemaligen Olivetti-Manager nach Villingen geholt, um die Firma Kienzle „die in den Jahren 1980/ 81 so abgesackt war, daß sie in ihrer Existenz bedroht war, zu sanieren.“ Tatò habe diese Erwartungen mit einem rigorosen Sparkurs durchgesetzt. Bereits 1983 hätte man deshalb schwarze Zahlen schreiben können. Der Tritt auf die Kostenbremse sei so heftig gewesen „daß auch für die weitere Entwicklung des Unternehmens wichtige Abteilungen, etwa Forschung und Entwicklung, auch die Werbung, davon nicht verschont blieben.“ Man sprach von „Totsanieren“. Ein Kienzle Manager äußerte sogar: „Tatò habe mit seinem Weggang viele Leute glücklich gemacht“. Kritisiert wurde vor allem der „rüde Führungsstil“ des Italieners gegenüber dem Management. Die Methoden Tatòs hätten die Kienzle-Mannschaft demoralisiert und auf die Stimmung gedrückt. ((StAVS Ordner: IGM-Verwaltungsstelle, Wirtschaftswoche 45 v. 2.11.1984 Kienzle/ Ende eines Sanierers.)) Von den Arbeitnehmervertretern wurde die Ära Tatò hingegen positiver bewertet. Der Betriebsrat wünschte dem scheidenden Geschäftsführer in der Badischen Zeitung vom 26.9.1984 wegen der offenen und fairen Zusammenarbeit alles Gute für die Zukunft. (( A.a.O. BZ v. 26.9.1984))
Die Krise scheint überwunden
Im Oktober 1984 schien die Krise überstanden. „Bei Kienzle Apparate in Villingen verbucht[e] man hohe Zuwachsraten.“ Nach Jahren schmerzhaften Personalabbaus sei man wieder auf Erfolgskurs. Im ersten Dreivierteljahr 1984 sei der Umsatz um 19 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Erstmals nach einer langen Durststrecke wurden wieder Gewinne gemacht. Die Aufträge hätten gegenüber dem Vorjahr sogar um 30 Prozent zugenommen, wegen der erfolgreichen Modelllinie 9100. ((Man feierte im Oktober 1985 den 10 000. Anwender des Computersystems 9000.))
Man hoffte die Stimmung im Betrieb wieder zu verbessern und die Mitarbeiter nach Jahren der Unsicherheit und Ungewissheit „neu zu motivieren.“ Nachdem in Villingen die Zahl der Mitarbeiter innerhalb von wenigen Jahren von 4500 auf 3000 verringert worden sei, werde man jetzt wieder neue Mitarbeiter einstellen. (( StAVS Chronik 7535 BZ v. 19.10.1984))
Der Tato-Nachfolger, der erst im Frühjahr 1986 kam, Professor Szyperski, konnte sich über die neuen Kienzle-Erfolge freuen. Man habe gegen die Konkurrenten Marktanteile hinzugewonnen. In der Entwicklung allerdings gebe es einen eindeutigen Rückstand, auf Kosten der Sanierung sei hier wenig getan worden. ((StAVS Chronik 7535 Schwabo v. 4.7.1986, Region enorm attraktiver Wirtschaftsraum? Mannesmann Kienzle: Professor Szyperskis erste Bilanz und Zukunftspläne.)) Deshalb suche das Unternehmen hochqualifizierte Leute. Entwickler würden aber gerade überall gesucht und keiner von denen wolle nach Villingen-Schwenningen ziehen, weshalb man jetzt auch Angebote dort mache, wo die Leute wohnen – deshalb habe man eine Mannesmann Kienzle Software GmbH in Ratingen gegründet. ((A.a.O. BZ v. 4.7.1986, Nach der Sanierung neue Märkte im Visier. Jetzt wieder größeres Gewicht auf Entwicklung/ Mannesmann-Kienzle, Qualifizierter Nachwuchs gefragt))
Auch Norbert Szyperski selbst hatte noch keine Wohnung in VS gefunden – vielleicht wollte er auch keine finden.
Lothar S., Physiker aus Gelsenkirchen, bewarb sich damals. „140 Bewerbungen habe ich geschrieben und ausgerechnet die da unten haben mich genommen. Ich hatte die Absicht, so drei vier fünf Jahre zu bleiben. Mannesmann war ja Düsseldorf, und dann wollte ich sehen, dass wir (meine Familie) nach Düsseldorf (zurück)kommen.“ ((Interview mit Herrn und Frau S. vom 6.8.2015))
Auch 1987 liefen die Geschäfte des Unternehmens gut. „Genau 6745 Mitarbeiter waren zum Ende des Jahres 1986 bei Mannesmann- Kienzle beschäftigt, seit 1982 die höchste Zahl an Mitarbeitern. Im Villinger Werk arbeiteten 1986 3735 Beschäftigte. Trotz Neueinstellungen wurden sogar wieder Überstunden gefahren. ((StAVS Chronik 7353 Südkurier v. 29.7.1987))
Mannesmann-Kienzle verkauft die Firmengebäude am Benediktinerring
Die Geschäfte gingen gut, man wollte sich ausdehnen und brauchte für die neue Produktionsplanung neue Gebäude. Kienzle wollte nicht mehr in seinen angestammten Räumen am Benediktiner Ring bleiben. „Die Produktion sollte erheblich rationalisiert werden, indem man den Standort Sommertshauser Halde um 12 000 Quadratmeter erweitern wollte“. Realisieren wollte man diese Baumaßnahme mit dem Verkauf des Werks III am Benediktinerring. Einen Käufer hatte man auch gefunden, der dort ein dreigeschossiges Gebäude zur privaten und gewerblichen Nutzung bauen wollte. Dazu brauchte man nur noch die Einwilligung der Stadt.
Vor drei Jahren noch hatte sich der Gemeinderat mit Händen und Füßen gegen solche Überlegungen gewehrt. Doch nachdem Mannesmann Kienzle inzwischen seine Fachschule für Informationsverarbeitung in Donaueschingen für 10 Millionen DM gebaut hatte und nicht, wie mancher Gemeinderat gehofft hatte, im Oberzentrum, hatten die Kommunalpolitiker ihre Meinung wohl geändert. ((StAVS Chronik 7535, Schwabo v. 12.5.1987, Bröckelt Front gegen Einkaufszentrum? Kienzle-Areal am Benediktiner Ring: Derzeit herrscht Funkstille.))
Immerhin wollte Mannesmann Kienzle 20 Millionen Mark investieren, die Stadt hoffte deshalb, dass trotz der mit den Baumaßnahmen verbundenen Rationalisierungen neue Arbeitsplätze entstehen könnten. ((StAVS Chronik 7535, BZ v. 1.12.1987, Geschäftszentrum am Benediktiner Ring geplant. Das Unternehmen will mit Hilfe des Verkaufserlöses expandieren – Investitionen von 20 Millionen im Gespräch.))
Im Oktober 1988 wurde das Richtfest gefeiert ((StAVS Chronik 7535, Schwabo v. 18.10.1988, Richtfest bei Mannesmann- Halle im Rohbau fertig.)) , wenig später die neuen Gebäude bezogen, und im Juli/ August 1989 bereits der größte Teil der ehemaligen Kienzle (Wernerschen) Uhrenfabriken am Benediktinerring abgebrochen. (( StAVS Chronik 7535, Schwabo v. 19./ 20. 8. 1989))
Nach drei Jahren Geschäftsführung, zum 31. Oktober 1989, wurde Norbert Szyperski aus „gesundheitlichen Gründen“ abgelöst. ((StAVS Chronik 7535, BZ v. 31.10.1989 Chefwechsel bei Kienzle. Szyperski wird abgelöst.)) Nachfolger Szyperskis sollte Roland Mecklinger von Messerschmidt- Bölkow-Blohm werden.