Sozialgeschichte der Uhrenindustrie

1963 – Anfang vom Ende der deutschen Uhrenindustrie ?

geschrieben am: 17.12.2016 von: Annemarie Conradt-Mach in Kategorie(n): Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände

1963 war Vollbeschäftigung erreicht, das galt auch für die Uhrenindustrie. In Schwenningen arbeiteten bereits 1585 Gastarbeiter, dies entsprach  7,9 % der Beschäftigten und lag über dem baden-württembergischen Durchschnitt mit einem Anteil von 5,9 %.1 

Der Wiederaufbau der Nachkriegszeit war stürmisch verlaufen, ein enormer Nachholbedarf auch an Uhren musste befriedigt werden. Die Uhren konnten gut verkauft werden, auch auf dem Weltmarkt. Nur wenige Fabrikanten machten sich Gedanken darüber, ob die betriebliche Organisation effizient war, oder welche Uhren ihre Kunden wünschten. Eine Zeitlang konnte man wirklich alles verkaufen, Investitionen in neue Entwicklungen wurden nur bedingt und wenig systematisch vorangetrieben. Man erlaubte sich über neue Entwicklungen hinweg zu sehen und mit wenigen Ausnahmen, z. B. Kienzle-Uhren2  , die asiatische Konkurrenz zu ignorieren.

Und dies alles geschah im Schutz vergleichsweise niedriger Löhne. Ganz offensichtlich suchten vor allem die einheimischen Uhrenunternehmer andere Branchen in Schwenningen möglichst zu verhindern, um sich die Lohnkonkurrenz vom Hals zu halten. So gab es solche Versuche 1963. Damals versuchte die Maschinenfabrik Gustav Strohm das Unternehmen zu verkaufen, weil der Firmeninhaber Gustav Strohm keine Nachfolger hatte. Zeitzeugen berichten, dass damals die Firma Bosch Kaufinteressen gezeigt habe. Schließlich ging das Unternehmen im März 1964 an die Maschinenfabrik Traub in Reichenbach. Die neuen Besitzer hätten viele gewerbliche Arbeitnehmer in das Angestelltenverhältnis übernommen, einen 13. Monatsgehalt und weitere Sozialleistungen gezahlt. Angeblich hätten die Schwenninger Arbeitgeber eine Abordnung zu Traub geschickt, mit dem Auftrag, das Unternehmen dazu zu bewegen diese zusätzlichen Leistungen zu reduzieren, „da diese Sozialleistungen das Sozialgefüge im hiesigen Industriebereich in Unruhe bringe und gefährde.“ Es wurde auch mit Boykottmaßnahmen gegen die Firma Traub gedroht, „wenn sie ihre Leistungen nicht stärker nach den ansässigen Firmen orientiere.“3

Die Uhrenindustrie in Baden-Württemberg hatte ihre besten Zeiten 1963 bereits hinter sich. Im Vergleich zur übrigen baden-württembergischen Industrie arbeiteten die Uhrenfabriken wenig produktiv. Die kommenden Schwierigkeiten dieser Branche waren bereits 1963 abzusehen.

Beschäftigte und Umsätze der heimischen Industrie 1963: hohe Lohnintensität der Produkte

Industriegruppe BereichBeschäftigteUmsatz in 1000,- DMUmsatz je Beschäftigtem
Uhren- und feinmechanische Industrie in den Kreisen RW u. VL1920335921518706
Übrige Industrie in den Kreisen RW u. VL3530294889026881
Gesamtindustrie in den Kreisen RW u. VL54505130810524002
Gesamtindustrie in BaWü14486265084971735101
Quelle: IHK Rottweil, Die Stellung der Uhrenindustrie innerhalb der Wirtschaft unseres Raumes. In: Peter Kurz (Hrsg.), 200 Jahre Schwenninger Uhren 1765 – 1965. S. 264 – 267. S. 266

Tarifliche  Lohnerhöhungen hatten nach Ansicht der IG Metall auch den Sinn neben der Verbesserung der Arbeitnehmereinkommen, Rationalisierung  und den Produktivitätsfortschritt voranzutreiben. 1977 noch stellte der IG Metall-Vorsitzende Eugen Loderer fest, „die deutsche Industrie könne nur dann ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten, wenn ‘ immer bessere und immer qualifiziertere Produkte‘ hergestellt würden.4  – und immer kostengünstigere. Loderers Grundsatz gilt auch heute noch.

Im Jahr 1963 überschwemmten bereits die japanischen Uhren den Weltmarkt und machten der Deutschen Uhrenindustrie mit ihren zu niedrigen Löhnen hergestellten Produkten das Leben schwer.5

Dazu kam die erste DM-Aufwertung, mit der Ludwig Erhard  im März 1963 die Exportüberschüsse begrenzen und  die Inflation bekämpfen wollte. Diese Entwicklungen verschlechterten die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die exportorientierten Schwenninger Uhrenfabriken erheblich. Der Arbeitskampf  1963 traf zumindest die Schwenninger Uhrenfabriken in einer eher ungünstigen Situation. Vielleicht kann man sogar sagen, dass 1963 bereits der Anfang vom Ende der  deutschen Uhrenindustrie begonnen hatte.

Das Lager der Arbeitgeber war nicht homogen. Die Maschinenbauindustrie und die Elektroindustrie konnten Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen sicherlich besser wegstecken als gerade die deutsche Uhrenindustrie. Die Dividenden der Firma Kienzle Uhren waren kaum mit denen von Siemens mit 16 Prozent6  vergleichbar. Bei Kienzle wurden 1961 4 Prozent Dividenden ausgeschüttet.7

Trotzdem war die Frage des IG Metall Bezirkssekretärs Erich Mayer im Arbeitskampf  berechtigt. Wieso sollen die Arbeitnehmer für eine  verfehlte Investitionspolitik der Unternehmen herhalten?

Die Firma Mahle in Rottweil brach schnell aus der solidarischen Arbeitgeberfront aus, und schloss mit der IG Metall-Verwaltungsstelle Schwenningen einen Einzeltarifvertrag ab, weil man ganz offensichtlich bei diesem Kolbenhersteller auch mit 6 Prozent Lohnerhöhung immer noch sehr gute Geschäfte machen konnte.

Auch die Situation der Arbeitnehmer war nicht homogen. Viele Arbeitnehmer hatten ihr Häusle abzuzahlen oder ihr Auto. Kurzfristigen Lohnverzicht zu leisten, um einen wenn auch kurzen Streik durchzustehen, war für manche wohl schwierig, weshalb diese neben der Arbeit als arbeitswilliger Streikbrecher auch kreative andere Lösungen für Zusatzeinkommen, wie z.B. Schwarzarbeit,  fanden.

Dem Staat ging es um die Erhaltung der Geldwertstabilität, höhere Löhne bedeuteten auch höhere Preise, Inflation wollte man wenn möglich verhindern. Den Arbeitnehmern war aber nur schwer zu vermitteln, dass die Inflation gerade mit einem Lohnstopp kuriert werden sollte, wenn die Löhne durch die laufenden Preiserhöhungen ständig gekürzt wurden.

Beim Arbeitskampf ging es auch um eine Machtfrage. Aussperrung war für die Arbeitgeber eine Möglichkeit die gewerkschaftlichen Kassen zu leeren und weitere Streiks möglichst für die nächste Zeit zu verhindern. Und Streik war eine Möglichkeit  für die Gewerkschaften Dividenden zu reduzieren und Druck auf die Arbeitgeber auszuüben. Dass durch diesen Streik die deutsche Wirtschaft auf Dauer geschädigt würde, daran glaubte wohl eher keiner. Nirgendwo wurde so wenig gestreikt wie in der Bundesrepublik.

Es ging bei diesem Arbeitskampf auch darum, wer kann schlussendlich Arbeitsbedingungen festlegen und wieviel Einfluss muss in einer sozialen Marktwirtschaft den arbeitenden Menschen auf ihre Arbeitsbedingungen zugestanden werden.

  1. StAVS Chronik 799, NQ v. 23.4.1963 „Deutsche Wertarbeit“ von Enrico und Pedro. In Schwenningen zur Zeit 1585 ausländische Arbeiter/ Noch geht alles gut. []
  2. Kienzle Uhren hatte bereits seit dem 1.1.1962 ein langfristiges  Kooperationsabkommen mit der japanischen Firma Hattori (später Seiko). Siehe Peter Kurz, Die Uhrenindustrie in Schwenningen 1765 -1965. Anfang und Ende? Reutlingen 1963, S 10 []
  3. IGM-Verwaltungsstelle Schwenningen a. N., Geschäftsbericht 1966/1967/1968. Schwenningen 1968, S. 19 []
  4. Der Spiegel Nr. 16, 1978, „Uns steht eine Katastrophe bevor“, S. 81 []
  5. StAVS 4.9-863, Stuttgarter Zeitung Nr.141 v. 22.6.1963, Gerd Kübler, Risse im Zifferblatt. Im Durchschnitt würde eine Dreimonatsproduktion auf Halde liegen. Gelagerte Erzeugnisse betrügen bei Junghans 1961 noch 1,88 Prozent, 1962 bereits 5,25 Prozent. Die Aufträge seien zurückgegangen. In den letzten drei Jahren seien bereits  7 Uhrenfabriken vom Markt verschwunden. Es gäbe neue Konkurrenten. „So hat Japan seine Uhrenproduktion von 2,3 Mill. Stück innerhalb kurzer Zeit auf 17,2 Mill. Gesteigert. In der Bundesrepublik wurden 1962 31,2 Mill. Stück Groß- und Kleinuhren produziert.“ []
  6. IG Metall-Flugblatt. Das Flugblatt verweist auf das Handelsblatt v. 1./ 2. Februar 1963 []
  7. Kurz, Peter: Die Uhrenindustrie in Schwenningen. S.8 Vgl auch Der Volkswirt Nr. 34/ 23.8.1963 Kienzle Uhrenfabriken AG: Neubesitzer deklarierten sich. Trotz geringem Ertrag 5 (4) vH Dividende. Dies entsprach etwa 2 bis 2,5 % des Börsenwerts der Kienzle-Aktien. []

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