Sozialgeschichte der Uhrenindustrie

Alfred Kreidler und die Medien

geschrieben am: 19.10.2015 von: Annemarie Conradt-Mach in Kategorie(n): Uhrenfabrik Kienzle

Im September 1974 präsentierte Kienzle mit „Chronoquarz“ ein elektronisches Uhrwerk für Autouhren zu angeblich erschwinglichem Preis. Da „dieses elektronische Uhrwerk den höchsten technischen Anforderungen unter extremen Umwelteinflüssen gerecht“ werde, seien „alle Kienzle-Autouhren mit diesem Uhrwerk ausgerüstet… sogar [die] englischen Luxuslimousinen Jaguar und Rolls-Royce.“ „Die Entwicklung des ‚jüngsten Sprosses‘ [habe] – und das betonte Kienzle mit Nachdruck- der Firmeneigner, Dipl.-Ingenieur Alfred Kreidler, besonders gefördert.“ ((StAVS 4.9-29 SWP 14.9.1974 Kienzle präsentiert mit ‚Chronoquarz‘ modernste uhrentechnische Entwicklung. / Quarz-Batteriewerk geht in Großserien-Produktion. Vorzug: Erschwinglicher Preis/ Elektronische Uhrwerke in Jaguar und Rolls-Royce.))
Diese Bemerkung war dem verbreiteten Gerücht geschuldet, die Probleme der Schwenninger Uhrenfabrik seien durch das zögerliche Verhalten des Firmeneigners Alfred Kreidler bei der Umstellung auf Quarzuhren im Autouhrenbereich entstanden.
Als Ende August 1975 der Deal mit dem Land über den Verkauf der Uhrensammlung für 8.5 Millionen DM endlich über die Bühne war, stand in der Zeitschrift Capital, die Aktion mit der Versteigerung, sei völlig contra produktiv gewesen, schließlich habe das Land Baden-Württemberg schon zu Beginn der Verhandlungen bereits 9,5 Millionen für die Sammlung geboten. Dies sei der Firma aber damals zu wenig gewesen, weshalb sie versuchte mit den Versteigerungsplänen Druck zu machen. Nach dem Zwischenspiel mit der Versteigerung in Zürich habe das Land schließlich nur noch 8 Millionen überwiesen, 1,5 Millionen weniger als vorher bereits möglich gewesen wären. (( Nach: StAVS 1.16 Nr. 11.109, BZ Nr. 223 v. 27./28. September 1975))
Nahezu gleichzeitig mit dem Verkauf der Uhrensammlung wurden von der Kienzle-Geschäftsleitung 250 weitere Entlassungen angedroht, obwohl jedermann glaubte mit den Millionen des Landes sollten die Arbeitsplätze sicherer werden. Das Maß sei voll, die „Sturheit“ des Fabrikbesitzers Kreidler sei Schuld an dem Desaster bei Kienzle-Uhren, die abgelöste Geschäftsleitung hätte eine „dilettantische Finanzpolitik“ betrieben, die Unsicherheit unter den Arbeitnehmern würde u.U. zu „einer Radikalisierung“ führen, so äußerte sich der Kienzle-Betriebsrat Rösch.
Kreidlers Drohung sich nicht mehr um das Unternehmen zu kümmern , sei „ein Trauerspiel“ so die Ansicht des DAG-Vertreters Harald Kraus, und der IG Metall Bevollmächtigte Erich Mayer, warf Kreidler vor, er habe seit 1964 sechs Millionen Mark aus der Firma herausgezogen und die Quarzuhr verzögert. „Es kann doch nicht wahr sein, daß der Kapitalist Kreidler machen kann, was er will.“ ((A.a.O. Erich Mayer in der BZ))

Unberechenbarkeit als Führungsmethode

Die Verteidigung des neuen Geschäftsführers Börger, schuld sei nicht Kreidler, sondern seine ehemaligen Geschäftsführer, war in diesem Zusammenhang weniger überzeugend. (( A.a.O.))
Im Februar 1976 schrieb die Zeitschrift Capital unter der Überschrift: „Fünf vor zwölf“ – „ Kienzle fährt mit Kreidler in die Krise: Mit Unberechenbarkeit als Führungsmethode herrscht der Mopedhersteller Alfred Kreidler seit elf Jahren in der Schwarzwälder Uhrenfabrik Kienzle.“ und brachte damit die Meinung der vielen zum Ausdruck, die ihre Arbeitsplätze durch „Unternehmerwillkür“ bedroht sahen.
Der 78-jährige Alfred Kreidler falle vor allem durch seinen rüden Umgangston seinen Mitarbeitern gegenüber auf und durch einen hohen Verschleiß an Geschäftsführern, seine Geschäftspolitik hingegen sei wenig erfolgreich, so die Zeitschrift Capital. Den Betriebsratsvorsitzenden Herbert Leipold habe er gar mit dem Götz-Zitat bedacht. Den Auseinandersetzungen mit dem Betriebsrat sei Kreidler 1974 ausgewichen mit der Aussage: „ich habe meine Bemühungen um die Rettung der Kienzle-Uhrenfabriken aufgegeben“. Die Mitarbeiter bei Kienzle seien seit 1970 um mehr als die Hälfte reduziert worden, trotzdem sei das Unternehmen nicht gesundet, weil Kreidler zu spät auf „gut verkäufliche Quartzautouhren“ umgestellt habe. Ein wenig „leistungsfähiges“ Vertriebsnetz im Ausland sei durch das unvorteilhafte Geschäft mit Bürle-Orlikon 1965 entstanden, bei dem Kreidler das Kienzle-Uhren-Vertriebsnetz Bührle überließ. Bis 1972 habe Kienzle über VDO 80 Prozent aller in Deutschland eingebauten Autouhren geliefert. Der Vertrag sei allerdings 1974 ausgelaufen, weil Kienzle nicht rasch genug auf Quartz-Autouhren umstellte. Ab Mitte 1975 fertigte VDO seine Quartz-Autouhren dann selbst. Als Reaktion auf diesen Misserfolg seien die Kienzle-Geschäftsführung, die Herren Hoffmann, Schubert und Storz, komplett ausgetauscht worden. ((StAVS 4.9-29 Capital v. Febr. 1976))

Kreidler und das magnetische Pendel

Satirischer Höhepunkt des Artikels war die Behauptung, Kreidler würde bei seinen Geschäftsentscheidungen ein magnetisches Pendel einsetzen. Nachgedruckt wurden diese Behauptungen von der Gewerkschaftszeitung „Metall“ und der DGB-Jugendzeitschrift „ran“ und im Anschluss daran in vielen Tageszeitungen. ((BZ v. 24.11.1976 Firmenboß Kreidler contra „Capital“, „ran“ und „Metall“. Kienzle-Stelldichein vor dem Landgericht.)) Diese Öffentlichkeitswirkung war für Kreidler wohl nicht mehr mit der Ehre eines deutschen Unternehmers vereinbar, weshalb er den Klageweg beschritt.
In der ersten Instanz vor dem Stuttgarter Landgericht konnten die anstehenden Fragen nicht eindeutig geklärt werden, weil die ehemaligen Geschäftsführer Hofmann und Schubert von Kreidler nicht von Ihrer Geheimhaltungspflicht entbunden wurden. Das umstrittene Pendel allerdings führte Kreidler höchstpersönlich im Verfahren vor, die Sache mit dem Pendel sei allerdings nur eine Spielerei gewesen, so Kreidler zu der Aussage des ehemaligen technischen Geschäftsführers Victor Storz, der Zeuge einer solchen Pendelentscheidung sein wollte. (( BZ v. 24.11.1976 Die Sache mit dem Pendel))
Bei der Verhandlung der 17. Zivilkammer des Stuttgarter Landgerichtes waren fast die gesamte Kienzle-Geschäftsführung, die „Betriebsratsspitze“, und ehemalige Kienzle-Geschäftsführer geladen.
In der zweiten Instanz endete der Prozess damit, dass die Zeitschriften „Capital“, „Metall“ und „ran“ ihre Pendel-Behauptungen zurücknehmen mussten ((StAVS 4.9-29. SWP 15.4.1977. Zwei Gewerkschaftszeitungen wurden gestern zum Widerruf verurteilt. Kienzle-Schicksal hing nicht vom Pendel ab. Neue Zeugenvernehmungen im Presseprozess Kreidler gegen ‚Capital‘. Die Pendel-Behauptung muss zurückgenommen werden. Kreidler konnte nicht beweisen, dass der Betriebsrat über das Korea-Projekt informiert war. Aussage stand gegen Aussage. Ebenfalls geklärt werden muss noch, ob Kreidler die Verträge mit VDO platzen ließ. Stgt. Ztg. 16.4.77. Kosten des Verfahrens trägt zu einem Drittel die IGM zu zwei Drittel Kreidler. ebenso FAZ v. 16.4.1977))  . Den zweiten Punkt der Anklage, die Behauptung der Gewerkschaften, Kreidler habe die Betriebsräte nicht über seine Korea-Pläne informiert, musste nicht zurückgenommen werden. Das Gericht urteilte, es sei den Gewerkschaften um die Erhaltung der Arbeitsplätze gegangen „Gegenüber diesem für die Allgemeinheit und insbesondere für die [durch die]Verlagerung von Produktionsteilen nach Südkorea betroffenen Arbeitnehmer der Firma Kienzle wichtigen Anliegen der Beklagten hat das klägerische Interesse am Schutz seiner Ehre zurückzutreten.‘ Der geltendgemachte Unterlassungsanspruch war deshalb abzuweisen.“ ((StAVS 4.9-29. SWP v. 19.4.1977. Nachtrag zu Landgerichtsurteil Alfred Kreidler gegen die IG Metall für Bundesrepublik. Beim Korea-Geschäft keine Karten auf den Tisch. ‚Metall‘ darf weiter behaupten, daß der Betriebsrat nicht unterrichtet worden ist.))  Alfred Kreidler ging in die Berufung. Im Juli 1977 entschied das Oberlandesgericht, dass die Gewerkschaftszeitungen „Metall“ und „ran“ ihre Behauptungen widerrufen mussten. ((STAVS 4.9-29, Stgt. Zeitung v. 28.7.1977))

Die Berichterstattung in der Presse sorgte dafür, dass die unternehmerischen Praktiken und Fähigkeiten von Alfred Kreidler weiter Thema blieben. Der Eindruck entstand, dass Kreidler eben wegen seiner Anwälte und weil einige Zeugen, wie die ehemaligen Geschäftsführer nicht aussagen durften, den Prozess zu seinen Gunsten beeinflussen konnte und nicht weil die von „Capital“ aufgestellten Behauptungen grundsätzlich falsch waren.
Das Medieninteresse für Kreidler begann mit dem Verkauf des Kienzle-Uhren Museums. Schöne alte Uhren, ein reicher Unternehmer, der seinen Ruhestand am Zürichsee verbrachte, der bekannt war durch seine Zweiradfertigung, jeder konnte mit dem Namen Kreidler etwas anfangen, Kreidlers selbstherrlicher Umgang mit den gewählten Politikern, dazu der Poker um viel Geld, das war eine Mischung, aus der man spannende Geschichten machen konnte, weshalb sich auch bald die überregionalen Medien für den publizitätsscheuen Unternehmer zu interessieren begannen. Mit der Person Alfred Kreidlers war ganz eindeutig ein Schuldiger für die enormen Arbeitsplatzverluste in der Uhrenindustrie gefunden.

Das Klischee des selbstherrlichen Patriarchen

Kreidler entsprach nahezu perfekt dem Klischee des selbstherrlichen Patriarchen, des klassischen „bösen“ Kapitalisten, der sich grundsätzlich wenig um das Schicksal seiner Beschäftigten zu kümmern schien. Hatte er sich doch in Schwenningen mit dem Versuch die Weihnachtsgratifikationen zu kürzen, bereits 1968 als Mann des Sozialabbaus eingeführt. Weshalb auch die Fehlentwicklungen des Unternehmens in der Presse in aller Regel dem als selbstherrlichen Patriarchen sich aufführenden Unternehmer angelastet wurden.
Kreidler bediente alle diesbezüglichen Vorurteile. Die Art und Weise, wie er mit den Landesbehörden umging, indem er die staatlich bestellten Gutachter einfach brüskierte und wie kleine Jungs vor der Tür des Museums stehen ließ, und damit zumindest in der Öffentlichkeit über die Medien zeigte, dass ihn die Preisvorstellungen der Landesinstitutionen wenig beeindruckten, die Meinung der Öffentlichkeit und der gewählten Politiker ihn wenig kümmerte und der Verlust der Arbeitsplätze ihm keinerlei moralische Probleme bereitete.

Probleme bereitete ihm trotz aller provokant zur Schau gestellten Selbstherrlichkeit aber die öffentlich geäußerten Zweifel an seinen unternehmerischen Führungsqualitäten in den Zeitschriften „Capital“, „Metall“ und „ran“, die bundesweit fast in allen Medien nachgedruckt wurden.
Die ergriffenen Maßnahmen selbstherrliche Unternehmer, die enorme Landesmittel zur Firmensanierung einforderten, stärker zu kontrollieren, waren schlussendlich nicht wirkungsvoll genug, wie z.B. der eingeforderte Aufsichtsratssitz durch einen Vertrauten der Landesregierung.
Auch die Publizitätsscheu des Unternehmers, die sicher auf seine Einstellung zurückging, ich bin niemandem Rechenschaft schuldig, ich bin der Herr im Haus, provozierte. Es löste Fassungslosigkeit aus, dass ein Unternehmer wie Kreidler, offensichtlich machen konnte, was er wollte, dass die Politik gerade in der Marktwirtschaft und ganz besonders im Wahlkampf erpressbar war, und dem Unternehmer Millionen um Millionen zur Verfügung stellte, um der Region die Arbeitsplätze zu erhalten.
Die missliche Situation der Uhrenfabriken suchte einen Schuldigen, da wurde behauptet Kreidler habe Geld aus dem Unternehmen gezogen, wie hätte er sich auch sonst sein Luxusleben leisten können? Der Gipfel war die Behauptung, Kreidler würde bei seinen Geschäftsentscheidungen ein magnetisches Pendel einsetzen. Lächerlich machen, das war auch eine Möglichkeit, Hilflosigkeit und Ohnmacht in der Wirtschaftswundergesellschaft zu verarbeiten.

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