Kienzle braucht neue Männer
Wechsel der Führungsmannschaft
Mitte März 1975 tauschte Alfred Kreidler die Geschäftsführung bei Kienzle komplett aus. Zur Vorstellung der neuen Männer kam Alfred Kreidler selbst nach Schwenningen. (( StAVS 4.9-29 Stgt.Ztg. v. 14.3. 1975 Kreidler trennt sich bei Kienzle-Uhren von allen Geschäftsführern))
Die neuen Männer waren:
Dr. Hans E.A. Börger, 51 Jahre, verheiratet, zwei Töchter, er arbeitete vor seiner Tätigkeit bei Kienzle in verschiedenen Großunternehmen in Europa, Amerika, Asien und Afrika, in Krupp-Auslandsgesellschaften, bei Thyssen, Klöckner-Humbold-Deutz, Alu-Suisse. Er sei ein Freund klassischer Musik und Fremdsprachen.
Ing. grad Alfred Reif, 52 Jahre, Familienvater, er hatte Berufserfahrung im Maschinen und Fahrzeugbau, in der Holz- und Kunststoffverarbeitung, im Elektro- und Pneumatik-Elementbau, und arbeitete vor seiner Tätigkeit bei Kienzle in den Unternehmen SEL, Kreidler Metallwerke und Fahrzeugbau, Robert Bosch GmbH, Behr Möbelfabrik und Festo-Pneumatik. Seine Hobbies waren Bergwandern, Filmen und Segelfliegen. (( StAVS 4.9-29 SWP v. 23.5.1975. Spitze Konzentriert . Siehe auch: Goldschmiede- Zeitung 7/ 1975))
Das Revirement Kreidlers wurde bundesweit zur Kenntnis genommen. Der 78jährige Alfred Kreidler habe sich nach Ansicht der Stuttgarter Zeitung zu einem „Kraftakt“ entschlossen und alle drei Geschäftsführer „auf einen Schlag“ entlassen. Angeblich hätten diese die Produktionsumstellung auf elektronische Uhren und auf Quarzwerke gebremst. Kreidlers Aktion sei wohl auf Druck seiner Hausbanken, der Deutschen Bank und der Württembergischen Bank geschehen. Unklar sei, wie der Firmeneigentümer sich nun nach dem Wechsel der Geschäftsführung in den Fragen Verkauf des Uhrenmuseums und der bereits beantragten Staatsbürgschaft verhalten werde. (( StAVS 4.9.-29. Stgt. Ztg. 14.3.1975 (Kommentar zu Kienzle-Uhren) Kraftakt.))
Und „die Welt“ stellte fest „Nachdem vor wenigen Wochen die Führungsmannschaft des Großuhrenherstellers Gebr. Mauthe GmbH, Villingen-Schwenningen ausgewechselt wurde, präsentieren nun auch die Kienzle-Uhrenfabriken GmbH Villingen-Schwenningen einen völlig neuen Vorstand.“ Mit dem Vorstandswechsel habe „die publizitätsscheue Familie Kreidler als Kienzle-Eigentümer gleichsam eine ‚Totaloperation‘ vollzogen“. Die Kienzle-Strategie auf besonders preiswerte und robuste Armbanduhren zu setzen, habe sich offensichtlich als wenig erfolgreich erwiesen. Branchenkenner seien der Meinung, „Kienzle habe den Schritt in die Elektronik zu spät vollzogen. Eine wesentliche Rolle dürfte auch gespielt haben, daß die Autouhr als einer der Produktionsschwerpunkte in den Sog der Autoflaute geriet.“ All dies habe seit etwa einem Jahr zu Beschäftigungsschwierigkeiten geführt. (( StAVS 4.9-29. Die Welt, Ausgabe B, vom 14.3.1975. Kienzle: neue Herren ziehen in Villingen die Werke auf.))
Hans Börger sollte für den kaufmännischen Bereich sowie den Vertrieb verantwortlich sein. Alfred Reif, der bereits seit fast einem Jahr mit einem technischen Sonderauftrag Kreidlers bei Kienzle tätig war und zum Jahresanfang 1975 Prokura erhielt, wurde für die Technik zuständig.
Die bisherigen Geschäftsführer „Heinrich Hoffmann (Verwaltung, Finanzen) und Viktor Storz (Technik), schieden mit Wirkung vom 30. April 1975 aus. Dr. Konrad Schubert, der Vertriebschef, war bereits „aufgrund eines Aufsichtsratsbeschlusses“ beurlaubt worden.
Noch mit der alten Führungsmannschaft hatte Kienzle den Verkauf des Uhrenmuseums in die Wege geleitet und außerdem eine Staatsbürgschaft für einen 10-Millionenkredit beantragt. Diesen Plänen sah nun der Stuttgarter Ministerialdirektor Herbert Hochstetter vom baden-württembergischen Wirtschaftsministerium die Geschäftsgrundlage entzogen. Der Antrag „ sei bereits vor Monaten gestellt worden. In der Zwischenzeit sei Kienzle nicht mehr an das Ministerium wegen der Bürgschaft herangetreten. Hochstetter wies darauf hin, „daß die Frage einer Staatsbürgschaft notwendig in einem Zusammenhang mit dem prinzipiell vom Finanzausschuß des Landtags gutgeheißenen Ankauf der Kienzle-Uhrensammlung gesehen werden müsse. Diese Angelegenheit [sei] jedoch bis heute ungeklärt, da das von der Landesregierung beauftragte Gutachtergremium … zum Kienzle-Uhrenmuseum keinen Zutritt erhielt.“ (( StAVS 4.9-29 Stgt.Ztg. v. 14.3.1975))
Neue Kienzle-Strategie
Im Juli 1975 trat Hans Börger erstmals an die Öffentlichkeit und erklärte forsch, „daß er ‚in Kürze‘ hart durchzugreifen“ gedenke, „deswegen bin ich da.“ Er wolle seine Ziel – „die Kosten in den Griff zu bekommen“- nicht „über den Umsatz machen, sondern im Wege ‚rücksichtsloser‘ Rationalisierung.“ Börger ergänzte, es falle ihm nicht leicht „über Leichen zu gehen“.
Früher habe es bei Kienzle 3000 Beschäftigte gegeben, heute seien es noch 1700. Bereits im Mai und Juni seien wieder 20 Personen im Verwaltungs- und Vertriebsbereich entlassen worden. Grundsätzlich hoffte Dr. Börger allerdings, die notwendige Personalanpassung durch „natürliche Fluktuation“ zu erreichen. Die Liquidität des Unternehmens sei bis Ende des Jahres gesichert.
Beschäftigte der Fa. Kienzle-Uhren/ Dufa in Schwenningen 1962-1995
Jahr | Beschäftigte |
---|---|
1962 | 2164 |
1965 | 2306 |
1968 | 2920 |
1971 | 2489 |
1974 | 1778 |
1977 | 1096 |
1980 | 861 |
1983 | 703 |
1986 | 824 |
1989 | 664 |
1992 | 536 |
1995 | 126 |
Durch den Verkauf der Uhrensammlung würde ein Abbau des Fremdkapitals möglich. Aus den roten Zahlen werde man aber 1975 nicht herauskommen und vermutlich auch 1976 noch nicht. „Anpassungsmöglichkeiten“ sah Börger nach einem Bericht der Stuttgarter Zeitung auch bei den Autouhren, die 1972 zum ersten Mal eingebrochen seien. „Wo immer gespart werden wird, an der Entwicklung nicht“, sagt der neue Geschäftsführer.“ „Im übrigen werde auf breiter Front an der Entwicklung von ‚kurz- und mittelfristig in Umsätze mündenden Erzeugnissen‘ intensiv gearbeitet.“
Eine jüngst bekanntgewordene Kooperation mit einer griechischen Firma (( StAVS 4.9-29 SWP 28.6. 1975. Um die strengen Einfuhrbeschränkungen zu umgehen. Kienzle-Uhren in Griechenland. Geschäftsleitung: keine Produktionsverlagerung geplant. „Nach sorgfältiger Überlegung haben sich die Kienzle Uhrenfabriken entschlossen, den in Griechenland bestehenden schwerwiegenden Einfuhrbeschränkungen für Fertiguhren mit einer bemerkenswerten unternehmerischen Maßnahme zu begegnen: man schloß mit einem namhaften griechischen Industrie- und Handelsunternehmen einen Kooperationsvertrag ab, der eine enge Zusammenarbeit auf dem Vertriebssektor und im Bereich Uhrenmontage vorsieht… bei dem bereits im fortgeschrittenen Ausbaustadium befindlichen Produktionsvorhaben in Griechenland handelt es sich um einen reinen Montage-Betrieb, der in Kürze mit 20 bis 30 Beschäftigten die Endmontage von elektronischen Kienzle-Wohnraum- und – Küchenuhren aufnehmen wird.“)) im Bereich Vertrieb und Uhrenmontage sei für die neue Geschäftspolitik nur ein Auftakt. Verhandlungen und Kontakte liefen mit einer ganzen Reihe von ausländischen Partnern. Börger: „Da sind wir außerordentlich scharf dahinter her.“ (( StAVS 4.9-29. Stgt. Ztg. 7.7.1975. Börger will bei Kienzle-Uhren hart durchgreifen. ‚Rücksichtslose Rationalisierung‘ – Entlassungen im Verwaltungs- und Vertriebsbereich – Bei Technik wird nicht gespart.))
Im August 1975 fanden auch Vergleichsverhandlungen bei Mauthe statt. Die Vorgänge bei Mauthe und Kienzle lähmten den örtlichen Arbeitsmarkt. Es sei unmöglich Fachkräfte aus den Unternehmen Kienzle oder Mauthe zu bekommen. Obwohl viele um ihren Arbeitsplatz bangten, rechneten die Beschäftigten dieser Unternehmen doch damit zu den „überlebenden“ zu zählen bzw. „in den Genuss von Leistungen aus eventuellen Sozialplänen zu gelangen“, weshalb sie sich nicht um einen neuen Arbeitsplatz bemühten. (( StAVS 4.9-29, Schwabo 15.8.1975. Bei Kienzle nur formal keine Massenentlassung. (Es soll mehrere kleine Entlassungswellen geben mit Gruppen unter 50 beschäftigten.) ))
Zur Liquiditätsverbesserung leitete Kienzle wurden neben dem geplanten Verkauf der Uhrensammlung weitere Maßnahmen ein: so wurde das Werk III vermietet, ein Grundstück in der Schützenstrasse an die Fa Pfannkuch verkauft, betriebseigene Wohnungen sollten an Mitarbeiter veräußert werden und das technische Know how im Bereich der Uhrenfertigung ausländischen Unternehmen angeboten werden. (( StAVS 4.9-29, Schwabo 21.8.1975. Mit dem Verkauf des Museums ist es nicht getan. Kienzle-Uhren zapft weitere Geldquellen an. Land zahlt acht Millionen/ Damit werden Schulden getilgt/ Kienzle verkauft Immobilien und ‚kow-how‘ und Stgt. Ztg. 22.8.1975 Die Firma Kienzle plant außerdem Veräußerungen von Grundstücken. ein Gelände soll für mehrere Millionen Mark an die Firma Pfannkuch gehen. Ein Teil der Werkswohnungen soll an die Mitarbeiter verkauft werden.“))
Im August war der Verkauf der Uhrensammlung endlich vom Tisch, trotzdem sollte jeder 7. Kienzleaner gehen. (( StAVS 4.9-29, SWP 22.8.1975. Sozialplan vereinbart. Jeder Siebte bei Kienzle betroffen.(In einer Betriebsversammlung) Schwabo 22.8.1975 Es bleibt dabei: jeder 7. Kienzleaner muß gehen. Betriebsrat befürchtet weiteren Personalabbau. IG-Metall Mayer zur Belegschaft: auch die restlichen Arbeitsplätze sind nicht sicher/ Konflikt-Stimmung.)) Allen Beteiligten war klar, Kienzle brauchte außerdem dringend die beantragte Landesbürgschaft für einen zinsverbilligten Kredit in Höhe von 10 Millionen Mark, um das Unternehmen wieder wettbewerbsfähig zu machen. Die Entlassungen sollten laut Geschäftsleitung weitergehen.
Auffallend oft im Vergleich zu früheren Zeiten erklärte die neue Geschäftsleitung die neue Kienzle-Strategie in den Medien.
In der Fachzeitschrift Uhren Juwelen Schmuck stellte Dr. Börger sein Programm für Kienzle vor. (( StAVS 4.9-29, UJS 17/ 75 S. 22 / 23 Abb. Seite 22. Kienzle: ‚Mit dem Uhrenfachhandel eine sachliche und dauerhafte Partnerschaft pflegen.‘ Ein Gespräch mit Dr. Hans E.A. Börger, Kienzle Uhrenfabriken GmbH, Schwenningen. S. 22/ 23))
Seiner Ansicht nach würde Kienzle besser dastehen, wenn man früher „ mit der Rationalisierung und Verbesserung der Organisation … angefangen hätte… Es [sei] jetzt, bildlich gesprochen, fünf Minuten vor zwölf.“
Ballast abwerfen- Mitarbeiter entlassen
Zur entscheidenden Personalfrage stellte Börger fest: „Im Zuge einer Neuorganisation, die ein leistungsfähiges Unternehmen zum Ziel hat, müssen wir Kräfte, die entbehrlich sind, eben im Interesse des Unternehmens freistellen“. Kienzle könne sich kein überflüssiges Personal leisten. „Wenn wir die Firma langfristig zu Erfolgen führen wollen, dann müssen wir strikt rationalisieren und können keinen unnützen Ballast mitschleppen. Man muß gegebenenfalls … von zehn Mitarbeitern einen entlassen, um die restlichen neun halten zu können.“
Kienzle brauche vor allem Geld. Es müssten wegen Mangel an Kapital zusätzliches Geld beschafft werden. „ Zum Beispiel durch den Verkauf von nicht betriebsnotwendigem Vermögen, wie dem Uhrenmuseum,“ durch Vermieten von Grundstücke und Gebäude, die nicht unmittelbar zur Erfüllung des Betriebszweckes dienten.“ Dadurch könnten Fremdmittel abgebaut werden.
Börger lenkte die Aufmerksamkeit auf den Verkauf der Kienzle-Produkte, er wollte die Mitarbeiterzahl im Außendienst sogar verdoppeln, mehr „persönlichen Kontakt zum Fachhandel knüpfen und den Service verbessern. Börger: „Wir streben an, daß wir innerhalb von weniger als 14 Tagen jede Reparatur an gängigen Modellen wieder zum Versand bringen.“ Zur Modellpolitik äußerte sich Börger: „Die Modelle, die laufen, werden forciert, diejenigen, die nicht ankommen, laufen aus“ Kienzle wollte „ an der zeitlos erfolgreichen Linie festhalten… bei Groß- und Kleinuhren – Modelle in Gestaltungen herausbringen, die der breite Markt verlangt, um damit ein verkaufsfähiges Sortiment zu haben“, bei den Quarzuhren aber erst dann einsteigen, wenn der Verkaufspreis unter 100 DM liegt.
Trotz der Uhrenkrise feierte Kienzle im September 1975 sein Kaliber 051, das 25 Millionen Mal gefertigt worden war. (( StAVS 4.9-29, SWP 19. September 1975. In diesen Tagen bei den Kienzle-Uhrenfabriken. Ein Uhrwerk als stolzer Jubilar. 25 Millionen Mal lief das „Kaliber 051“ vom Band. „Dieser seit 1923 gefertigte Jubilar, das Kienzle-Armbanduhrwerk vom Kaliber 051, hat in diesen Tagen glatt seine 25millionste Stückzahl in der Endmontage erreicht.“ Das Werk würde heute nach den neuesten Erkenntnissen gefertigt. Die Nachfrage nach diesem Werk befinde sich auf absolutem Rekordniveau.)) Die ‚Kienzle Strapazieruhr‘ war eine der verkaufsstärksten Armbanduhren des Unternehmens mit ihrem „ganggenauen, strapazierfähigen“ Werk ohne Steine. (( StAVS 4.9-29, Schwabo 19.9.1975. 25 Millionen mal „Kaliber 051“ „Wohl äußerst selten hat ein Kleinuhrwerk in der industriellen Fertigung einen so langen Produktionszeitraum mit vergleichbarem weltweitem Markterfolg durchlaufen… Zeitgeschichtlich gesehen hat die Firma Kienzle mit dem Werk 051 eine ganggenaue, strapazierfähige Armbanduhrenkategorie ohne Steine begründet und durch einen erschwinglichen Preis für jedermann zugänglich gemacht.“ ))
In Schwenningen war der neue Geschäftsführer eher umstritten, in den Wirtschaftszeitungen „Capital“ allerdings wurden die Leistungen des Dr. Börger gewürdigt. Er habe die Uhrensammlung für die Region erhalten, das Land hätte die Kaufsumme von 8 Millionen auf einen Sitz gezahlt und nicht wie ursprünglich vorgesehen in zwei Tranchen. Börger habe außerdem den Gutachter des Landes für die Uhrensammlung verhindert und mit seinem Unternehmenskonzept die Voraussetzungen für eine Landesbürgschaft in der Höhe von 10 Millionen Mark geschaffen. Diese zusätzlichen Gelder sollten nun Kienzle „Investitionen für eine zukunftsorientierte Modernisierung“ der Fertigungsanlagen ermöglichen. (( StAVS 4.9-29, Capital. Dez. 1975. Dr. Börgers Verdienste 10/ 75. Verdienste Börgers nach E.Kienzle, Kienzle-Uhrenfabriken.))