Sozialgeschichte der Uhrenindustrie

Vom Niedergang der Uhrenindustrie. Strukturwandel in der Region Schwarzwald-Baar-Heuberg

geschrieben am: 22.06.2014 von: Annemarie Conradt-Mach in Kategorie(n): Allgemein, Überblick

1957 zählte die Deutsche Uhrenindustrie 36 156 Beschäftigten, der Höchststand in ihrer Geschichte1 . Innerhalb der westdeutschen Wirtschaft war die Uhrenindustrie aber nur ein kleiner Wirtschaftszweig mit einem Anteil von 0,6 %2 .

Die Betriebe hatten traditionell eine hohe Exportorientierung (1959 rund 50 %) und ihre Produkte verursachten hohe Lohnkosten (teilweise über 50 Prozent der Kosten).

Beschäftigte und Umsätze der heimischen Industrie 1963: hohe Lohnintensität der Produkte

Industriegruppe BereichBeschäftigteUmsatz in 1000,- DMUmsatz je Beschäftigtem
Uhren- und feinmechanische Industrie in den Kreisen RW u. VL1920335921518706
Übrige Industrie in den Kreisen RW u. VL3530294889026881
Gesamtindustrie in den Kreisen RW u. VL54505130810524002
Gesamtindustrie in BaWü14486265084971735101
Quelle: IHK Rottweil, Die Stellung der Uhrenindustrie innerhalb der Wirtschaft unseres Raumes. In: Peter Kurz (Hrsg.), 200 Jahre Schwenninger Uhren 1765 – 1965. S. 264 – 267. S. 266

93 Prozent der Uhrenunternehmen befanden sich in Baden Württemberg an den Standorten Schwenningen, Schramberg, Villingen, Triberg, St. Georgen, Furtwangen (einige auch in Pforzheim und Schwäb. Gmünd.)3

Die größten Uhrenfabriken der Welt 1970

NameUmsatz in Mio.DMAnteil der Uhrenprod. In %Produkt. Mio. Einheiten
Timex7207520
Hattori/ Seiko6528912
ASUAG5861000.5
Bulova571712
Elgin410371
SSIH/ ESTH39310010
Hamilton320350.45
Citizen189887
SGT/ Waltham147903.8
Slawa1471006
Junghans1211000.4
Quelle: SAVS 4.9 / 863 Aus: Centre de Recherches Europeennes, Pour une Communaute de L‘Industrie Horlogere Europeenne. Lausanne 1971

Ende der 50 er Jahre wurden Arbeitskräfte in der Bundesrepublik Mangelware, so konnten die Gewerkschaften Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, wie höhere Löhne, mehr Urlaub, und die Kürzung der Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden durchsetzen.

Mit den 70er Jahren kamen eine   Vielzahl von Arbeitsschutzgesetzen ( Kündigungsschutz, Lohnfortzahlungsgesetz, besserer Mutterschutz etc.). Der Lebensstandard einer breiten Bevölkerungsschicht stieg erheblich, aber die Lohnkosten verteuerten sich weiter.

 „Der Uhrenmarkt ist gesättigt und die Produktion oder die Fertigungskapazitäten liegen eindeutig über der Nachfrage.“

Konnte man bereits 1964 in der Stuttgarter Zeitung lesen4 . Auf dem deutschen Markt traten neue Wettbewerber auf. Die Amerikaner (Timex), die Japaner (Seiko, Citizen), die Russen, aber auch Uhren zu Dumping-Preisen aus der ehemaligen DDR verdarben den deutschen Unternehmen das Geschäft5 .

Die größten deutschen Uhrenfabriken 1970

FirmenFirmensitzBeschäftigteUmsatz Mio DMExport-quote in %
JunghansSchramberg430012840
Europa-UhrenSenden21008765
KienzleSchwenningen30008233
BlessingWaldkirch16004060
J. KaiserVillingen13003050
MautheSchwenningen12003050
Bifora - UhrenSchwäb. Gmünd7002530
Kundo St. Georgen5502530
Gebr. Staiger St. Georgen3801845
Aus: SAVS – VDU 4.9/ 864 Branchen-Bericht, Commerzbank / Uhrenindustrie, April 1972, S. 20

Die Uhrenbetriebe müssten ihre Produktvielfalt reduzieren, es sei nicht mehr zeitgemäß in einem kleinen Betrieb mit 100 bis 200 Beschäftigten  685 verschiedene Modelle zu produzieren, immer noch gebe es 1808 verschiedene Uhrenschräubchen. – meinten Kritiker. Vielfalt sei im deutschen Hochlohnland Luxus6 .

Rationalisierung, Konzentration und Kooperation der vielen Klein- und Kleinstbetriebe war das Gebot der Stunde.

Für ersteres fehlte oft das Geld und letzteres war im Schwarzwald nur schwer durchzusetzen „wo jeder futterneidisch auf den anderen blickt“, wie der Geschäftsführer Ernst Jung von der Fa. Mauthe  feststellte7 . Die Uhren sollte kurzlebige Verbrauchsgegenstande werden, Modeaccessoire oder Prestigeobjekt sein,  (wie zum Beispiel das Utopia-Modell der Firma Omega: Preis (1970) 7000 Mark8 .)

Durch die Dollarabwertungen wurden die deutschen Uhren auf dem Weltmarkt zu teuer

1971 wurden die festen Wechselkurse aufgegeben, (Dollarabwertungen). 1973 kam es zur Ölkrise. Beides bedrohte die angespannte Situation der deutschen Uhrenindustrie. In den Zentren der Uhrenindustrie ging die Existenzangst um. 2000 Arbeitslose und 3000 Kurzarbeiter prägten das Bild der Uhrenregion. In Schramberg z.B. arbeitete damals jeder 4. Einwohner bei Junghans.

1974 und 1975 kam es zu drei spektakulären Firmenpleiten. Blessing in Waldkirch, Kaiser-Uhren und Mauthe-Uhren  in Villingen-Schwenningen.

Mauthe1

Die Uhrenfabrik Friedrich Mauthe GmbH in Schwenningen am Neckar

Die Uhrenfabrik Kaiser-Uhren in Villingen

Auch die Firma Kienzle-Uhren Schwenningen musste ihre Uhrensammlung verkaufen, um ihre Lage zu sichern und rund 1000 Arbeitsplätze abbauen.

Zwischen 1973 und  1978 verlor der Schwarzwald-Baar-Kreis 13 Prozent seiner Arbeitsplätze der Kreis Rottweil 12 und der Kreis Tuttlingen 7 Prozent.

Der Quarztechnologie wurde zwar oft die Schuld am Niedergang der Uhrenindustrie zugeschrieben, der Marktanteil der Quarzuhr betrug 1976 aber erst 2,5 Prozent. Die Gebrauchseigenschaften dieser Uhren waren immer noch sehr viel schlechter als die der mechanischen Uhr. Beim Apollo-Unternehmen 1975 hatten die Astronauten zwar elektronische Taschenrechner dabei, am Handgelenk trugen sie aber mechanische Uhren9  .

Die neue Technologie veränderte aber nicht nur die Uhr selbst, sie veränderte auch andere Produkte (Fernsehgeräte, Radios, Kameras) – und sie veränderte vor allem die Fertigungsprozesse. Der Siegeszug der  Elektronik war nicht aufzuhalten und machte viele Arbeitsplätze überflüssig.

Gehen im Schwarzwald die Lichter aus?

1981 fragte Wolfgang Helmer in der Stuttgarter Zeitung: Gehen im Schwarzwald die Lichter aus? – nachdem der renommierte Plattenspieler-Hersteller Dual Konkursantrag gestellt hatte und bekannte Namen wie Junghans, Kienzle-Apparate und Saba durch Werksschließungen und Entlassungen ins Gerede gekommen waren.

Anfang der  90 Jahre kam es zu Absatzschwierigkeiten der  Autoindustrie, für die mittlerweile viele Unternehmen der Metall- und Elektrobranche zulieferten. Der Schwache Dollar verdarb den Export. (Was auch die verbliebenen Uhrenunternehmen weiter in Bedrängnis brachte).

1992 brach das Geschäft mit den Fahrtenschreibern ein,

„wir können die Autohersteller nicht dazu bringen zwei Fahrtenschreiber  in einen Omnibus einzubauen.“

meinte der Betriebsratsvorsitzende Tonhausen (Kienzle-Apparate),  20 Prozent der Personalkosten sollten eingespart werden10 .

Gut lief dagegen in diesen Jahren das Geschäft der Zeiterfassungsgerätehersteller.

Im August 1993 hatte Villingen-Schwenningen landesweit die höchste Zahl an Arbeitslosen.

Der Oberbürgermeister Dr. Gebauer sprach von dem ‚Schwierigsten Zustand seit 1945‘11 .

Im November stieg die Arbeitslosenquote auf 10,5 Prozent.

Ministerpräsident Erwin Teufel kam 1994 nach Villingen-Schwenningen, um sich persönlich für den Erhalt der Arbeitsplätze bei Thomson- Brand und Digital einzusetzen.

1994 gab es  nahezu in jedem metallverarbeitenden Betrieb der Region Entlassungen. Die Betriebe rationalisierten, automatisierten und verlagerten ihre Produktion ins kostengünstige Ausland.

Beschäftigte der gesamten Uhrenindustrie Baden-Württembergs 1959 bis 2009

Jahr Beschäftigte
195931382
196427737
196931331
197427749
197917798
198411253
19898947
19955205
20003591
20052257
20091369
Quelle 1959: Schachtschabel, Anhang, 1965; 1964-1969: Mayer-Heitz, 1973, 1974-1989: Verein der Uhrenindustrie, jahresberichte, 1990-2009: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg. (Übernommen aus: Johannes Graf, Von Hundert auf Null in 40 Jahren. Die deutsche Großuhrenindustrie in der Nachkriegszeit)

Heute (2012) ist die Beschäftigungslage in der Region im landesweiten Vergleich eher günstig. Die Uhrenindustrie in Baden-Württemberg ist fast völlig verschwunden12 Im Schwarzwald-Baar-Kreis beträgt das produzierende Gewerbe immer noch 43  Prozent, im Landkreis Rottweil 53  und im Landkreis Tuttlingen sogar 64 Prozent.

Die Betriebe haben aus den Krisen gelernt, sie sind

  • hocheffizent,
  • technologisch auf dem neuesten Stand,
  • und global ausgerichtet.

Der Dienstleistungsbereich ist größer geworden, Hochschulen wurden eingerichtet. Villingen-Schwenningen ist  nicht mehr das industrielle Zentrum der Region, die spannenden Firmen finden sich eher in Schramberg und in Tuttlingen.

Die Arbeiterströme, die in den 60er Jahren mit dem Zug nach Villingen und Schwenningen gefahren sind, sie fahren heute wohl eher mit dem Auto nach Tuttlingen.

  1. Stadtarchiv Villingen-Schwenningen SAVS 4.9/863 Jahresbericht 1962 des Verbandes der deutschen Uhrenindustrie, gez. Schwenker, Bad Godesberg, den 18.Mai 1963, S. 7 []
  2. a.a.O.  Hans Schwenker, Die Deutsche Uhrenindustrie/ Geschäftsführer des Verbandes der deutschen Uhrenindustrie. Aus: La Suisse Horlogere, la Chaux de Fonds, Nr. 40 v. 13.10.1960 []
  3. a.a.O. []
  4. SAVS 4.9-863 Stuttgarter zeitung Nr. 204, Gerd Kübler, Reisewecker auf der Flucht in die große Serie []
  5. SAVS 4.9-863, Gerd Kübler, Risse im Zifferblatt. In Stuttgarter Zeitung Nr. 141 v. 22.6.1963. Zu Dumpingpreise bei Ostblockuhren: a.a.O. Dr. Schwenker, Jahreshauptversammlung des Verbandes der deutschen Uhrenindustrie e.V. in bad Dürrrheim am 30.3.1966, S. 3       []
  6. a.a.O. []
  7. a.a.O. Stuttgarter Zeitung Nr. 204 []
  8. SAVS 4.9-864, Uhrenindustrie in der Krise: Die Zeit ist abgelaufen. In: Capital 11/70 []
  9. SAVS 4.9-868, Waldemar Schäfer, Kein Moloch – eher eine Maus am Marktkuchen. In:Gold und Silber, Sept. 1975, S. 33. „Außerdem ist das Prestige der Technik nach wie vor nicht so groß wie jenes von Gold oder Styling. Mit einer Patek, einer Piaget, einer Piguet oder einer Vacheron-Constantin lässt sich mehr Aufmerksamkeit erregen als mit einer elektronische Uhr.“… „Wer aber weiter ängstlich fürchtet, den mag die Geschichte der Raumfahrt überzeugen. Beim letzten Apollo-Unternehmen hatten die amerikanischen Astronauten zwar elektronische Taschenrechner dabei. Am Handgelenk aber trugen sie mechanische Automatikuhren.“ Hier irrte sich der Autor wohl, wegen der fehlenden Schwerkraft sind Automatikuhren für den Weltraum nicht geeignet. []
  10. SAVS 4.9-870, Südkurier v. 11.11.1993 []
  11. SAVS 4.9-870, Südwestpresse, Neckarquelle v.2.9.1993 []
  12. Johannes Graf, Von Hundert auf Null in 40 Jahren. Die deutsche großuhrenindustrie in der Nachkriegszeit. []
Eike-Volker Urtel am 17. Mai 2016 um 10:21 Uhr

Die Astronauten trugen Uhren mit Handaufzug, Automatikuhren funktionieren in der Schwerelosigkeit nicht.

Annemarie Conradt-Mach am 20. Mai 2016 um 10:32 Uhr

Vielen Dank für Ihren Kommentar. Leider habe ich die Quelle zu wenig hinterfragt. (Siehe Anmerkung 9, Waldemar Schäfer: Kein Moloch – eher eine Maus am Marktkuchen.)

Martin am 26. April 2020 um 09:34 Uhr

Vielen Dank für den interessanten Einblick in die neuere Geschichte der Uhrenherstellung im Schwarzwald.

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