Sozialgeschichte der Uhrenindustrie

Kann die Uhrenindustrie überleben?

geschrieben am: 10.08.2016 von: Annemarie Conradt-Mach in Kategorie(n): Allgemein, Marktuntersuchungen

Bewertung der Töpfer-Studie durch die Gewerkschaft

Gewerkschaft wie Unternehmerverband nahmen die Ergebnisse der Töpferstudie positiv auf trotz der „missglückten Presseerklärung des Bundeswirtschaftsministeriums“ im September 1978 ((Vgl. StAVS 4.9-415, Anhang zum protokoll der Besprechung im Wirtschaftsministerium am 1. 12. 1978 in Stuttgart))  und sahen sich beide in ihrer bisherigen Einschätzung der Lage der Uhrenindustrie bestätigt.

Horst Hinz von der IG Metall betonte vor allem die Probleme, die durch „die regionale und sektorale Monostruktur der Uhrenindustrie“ verursacht würden.  „Rund 32 Prozent der Beschäftigten konzentrier[t]en sich auf die Stadt Pforzheim (einschließlich Enzkreis sind es fast 40 Prozent).“ In Villingen-Schwenningen seien es 48 Prozent (einschließlich. Landkreis Rottweil sind es sogar 60 Prozent.)

Hinz beklagte, dass  „ im ‚günstigsten‘ Fall 2 000 Arbeitsplätze im Raum Pforzheim und 4 000 in Villingen-Schwenningen bis 1985 verloren gehen [würden]. Diese Verluste könnten aber auch auf 4 500 bzw. 8000 Arbeitsplatze ansteigen!“ Die Probleme der Uhrenindustrie seien auf bestimmte Regionen begrenzt, in denen es auch wenig Möglichkeiten für Ersatzarbeitsplätze gebe, da die Arbeitsplätze in den Branchen Feinmechanik, Maschinenbau und Elektrotechnik ebenfalls durch die Mikroelektronik von einem Arbeitsplatzabbau betroffen seien.  Besonders schlecht stelle sich nach Ansicht der Gewerkschaft die Situation für ältere qualifizierte Arbeitnehmer ((Horst Hinz/ IG Metall/ Vorstand- Abt. Wirtschaft: Uhrenindustrie: Elektronik und Arbeitsplätze. Frankfurt/ M. 26.9.1978,  S. 5))  dar, die wenig Chancen auf ein neues Beschäftigungsverhältnis hatten.

Tendenz: Das Erreichte zu sichern und Neues zu unterlassen

Wesentliche Ursache der Schwierigkeiten der Branche waren für die IGM die von der Töpferstudie festgestellten Qualifikationsdefizite beim Management (( A.a.O. S. 7))  .  Es dominiere das  Tagesgeschäft, kreatives Potential sei wenig entwickelt. „Führungsinstrumente, wie etwa eine leistungsfähige Kostenrechnung“ gebe es fast nicht.  „Die autoritäre Organisationsstruktur der Unternehmen programmier[e] den Misserfolg voraus … In den Betrieben gebe es  häufig einen „Entscheidungsnotstand“.  Es sei „eine starke Tendenz vorhanden, das Erreichte zu sichern und Neues zu unterlassen“.

Qualifikationsdefizite gebe es aber nicht nur in den „Chefetagen“ sondern auch bei befragten Arbeitnehmern. (( A.a.O. S. 8))

„Das Qualifikationsdefizit komm[e] auch in der Dominanz der untersten Lohngruppen mit einem Anteil von 63 Prozent und dem geringen Anteil der oberen Lohngruppen zum Ausdruck.“  Die Beschäftigten der Uhrenindustrie seien insgesamt schlecht über die Bedrohung ihrer Arbeitsplätze durch neue Technologien informiert. Wichtigste Informationsquelle sei für diese die Tageszeitung.“ (( A.a.O. S. 9))

Handlungsmöglichkeiten für den Betriebsrat sahen die befragten Uhrenarbeiter in dieser Situation nicht. Diese hofften vor allem (66 Prozent) auf eine wirksame Hilfe durch den Staat.

Die befragten Arbeitnehmer setzten ein erhebliches Vertrauen in ihr Unternehmen und ihr Management trotz zunehmender Firmenpleiten in ihrem Umfeld  „mit der falschen Konsequenz einer zu geringen Bereitschaft, selbst etwas zu tun, um sich an die neue Situation anzupassen und mit ihr fertig zu werden‘.“ ((A.a.O. S. 10))

Was ist zu tun?

Nach Ansicht von Horst Hinz kam es in Anlehnung an die Töpferstudie darauf an „die Existenz der  Unternehmen als auch die Zahl und Qualität der Arbeitsplätze soweit wie möglich zu sichern.“

Der Chef alter Prägung habe ausgedient. Nach Hinz’s Ansicht standen die Unternehmen der Branche vor einer völligen Neuorganisation, wenn sie überhaupt noch überleben wollten. Notwendig war auf allen Ebenen ein neu zu schaffendes „mittleres Marketingmanagement“, das  in Zukunft in den Unternehmen Informationen „über die Marktlagen, über Marktlücken, über zusätzliche Exportmöglichkeiten“  bereitstellte. Neue Gemeinschaftsmarken sollten für die zahlreichen Klein- und Kleinstfirmen kreiert werden.

Die Unternehmen bräuchten dringend „ein mittleres produkttechnisches Management“.  „Innovationsberatungsstellen incl. eines Informationssystems über technologische Entwicklungen“ müssten geschaffen werden mit dem Ziel:  Forschungs- und Entwicklungsschwerpunkte für die deutsche Uhrenindustrie festzulegen, die Software-Entwicklung im Elektronikbereich zu intensivieren; Aktivitäten in den Bereichen Design und mechanische Anzeigesysteme anzustoßen; Vereinheitlichungen bei Gehäusen und Quarzmoduklen zu erreichen, Spezialisierung bei den  Herstellern von Großuhren-Quarzwerken voranzubringen; systematische Kaliberbereinigung in der Branche durchzuführen und marktorientierte Produktanalysen anzufertigen; Außerdem müsste Kooperation mit und  Beratung durch die Elektronikproduzenten intensiviert werden.

Aber nicht nur die Produkte der Uhrenbranche hätten neue Impulse nötig, auch die Produktionstechnik müsse durch ein neu zu schaffendes produktionstechnisches Management völlig verändert werden durch: Innovationsberatungsstellen auch für die Produktionstechnik; „Ermittlung von Modell-Produktionsprozessen; Entwicklung von Automaten speziell für kleine und mittlere Unternehmen; Verringerung der Umrüstzeiten; Hilfe bei Auswahl und Anpassung von Produktionsanlagen; durch Schaffung eines ein neues Berufsbilds ‚Betriebstechnik‘; permanente Schulung des Betriebspersonals; Beibehaltung des eigenen Werkzeug- und Vorrichtungsbaus.“ (( A.a.O. S. 15 ff. Horst Hinz orientiert sich hier an den Einschätzungen der Töpfer-Studie))

Der Staat muss helfen

Wichtig war aus Sicht der IGM eine Kontrolle der Rationalisierungspolitik, um Arbeitsplätze möglichst zu erhalten. Überrationalisierung müsse vermieden werden.

Der bevorstehende Abbau der Fertigungstiefe sollte gebremst werden durch die Sicherung der Arbeitsplätze in der Werksmontage; durch Auf- und Ausbau der Reparaturabteilungen und Erhöhung der durchschnittlichen Seriengrößen.

Der Informationsstand der Arbeitnehmer  müsse dringend verbessert werden durch Intensivierung von  (Um-) Schulung und Weiterbildung, wie z.B. auch durch Sonderprogramme für ältere qualifizierte Arbeitnehmer.

Die Unternehmen müssten durch ein neues (mittleres) Management mit entsprechendem Führungsinstrumentarium umorganisiert werden, es brauche dringend ein Standard-Kostenrechnungssystem für die Uhrenindustrie und weitere Unternehmenskooperation im Einkauf.

Der Staat müsse die Unternehmen bei der Verbesserung ihrer Kapitalausstattung  unterstützen Öffentliche Investitionshilfen und andere stattliche Fördermaßnahmen müssten nach Ansicht der IGM vor allem nach sozialen Gesichtspunkten vergeben werden. Erhebliche Investitionsprogramme seien aber notwendig  um neuer Arbeitsplätze in den betroffenen Regionen zu schaffen. (( A.a.O. S. 14))

IG Metall- Fazit

Für die IGM Metall ging es wesentlich darum möglichst viele Arbeitsplätze zu erhalten, weshalb Rationalisierungsmaßnahmen mit Augenmaß umgesetzt,  Diversikationsmöglichkeiten ausgeschöpft und  Umschulungsmaßnahmen für Arbeitnehmer angeboten werden sollten.

Die Töpfer-Studie sei entlarvend: „Einmal enthüll [e] sie ein positives Vorurteil und ein schier grenzenloses Vertrauen der Arbeitnehmer zugunsten ‚ihres‘ Managements. Beides – Vorurteil und Vertrauen – [seien] alles andere als gerechtfertigt. Zweckmäßig [seien] stattdessen Skepsis, Problembewusstsein und kritische Kooperationsbereitschaft. Zum anderen beweis[e] die Studie, wie sehr in den Unternehmensspitzen mit – leider abgestandenem –Wasser gekocht [werde]. Es [sei] erschütternd zu sehen, wie gern von Unternehmerseite zwar immer wieder auf die eigene Leistung und Verantwortungsbereitschaft hingewiesen [werde], wie aber gleichzeitig die tägliche Praxis durch sozial gefährliche Defizite an beidem gekennzeichnet [sei].

Tatsache bleib[e], dass alle Studien nicht von irgendwelchen dogmatischen Gegnern der Marktwirtschaft erstellt worden [seien]. Tatsache bleib[e], dass die Elektronik nicht nur bei der Uhrenindustrie einen Fuß bereits in der Tür [habe]. … Gegenüber 1970 [würden] bis 1985 (vielleicht) 70 Prozent der Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz räumen müssen. Das wären rund 22 000 Personen plus Angehörige

Die Konsequenzen der Elektronik [griffen] aber weit über die Uhrenindustrie hinaus. Nach Schätzungen des Bundesforschungsministeriums [würden] in den nächsten 10 bis 15 Jahren mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze in der Bundesrepublik von der Mikroelektronik irgendwie betroffen sein. Diese Auswirkungen aber [seien] überhaupt noch nicht absehbar.“ (( A.a.O. S. 15))

Horst Hinz endete seine Betrachtung  „Es ist höchste Zeit, die vorhandenen Ideen auf ihre praktische Tauglichkeit hin zu prüfen. Die Welle der sozialen und ökonomischen Folgen des technologischen Wandels droht uns zu überrollen. Innovationspolitik ist auch im politischen Bereich mehr und mehr zu einer Frage des ‚Überlebens‘ geworden.“ (( A.a.O. S. 16))

Bewertung der Töpfer-Studie durch den VDU

Grundsätzlich blieb der VDU (Verband der deutschen Uhrenindustrie) bei seiner Einschätzung, schuld an der Misere seien vor allem die hohen Kosten und damit natürlich auch die Gewerkschaften mit ihren überzogenen Lohnforderungen. Dem VDU war es aber genauso wie den Gewerkschaften wichtig die Unternehmen zu erhalten, weshalb man auf umfangreiche von den Unternehmen bereits eingeleitete Diversifikationsbemühungen hinwies. Eine vom VDU durchgeführte Umfrage bei den Verbandsfirmen zeigte, dass viele Unternehmen mit Diversifikationsprodukten begonnen hatten. Bei den befragten Unternehmen betrugen diese Produkte  bereits 48 % des Umsatzes. (( StAVS 4.9-415 Anhang zum Ergebnisprotokoll (VDU) der Sitzung des Beirats am 7. Dezember 1978))   Die Uhrenindustrie zog folgende Lehren aus der Töpfer-Studie. Vertriebsfragen seien mindestens so wichtig wie Technologiefragen. Die Arbeitgeber schlugen vor, das Vertrauen der Uhrenarbeiter in ihre Unternehmer für notwendige Weiterbildungsmaßnahmen und sachliche Aufklärung zu nutzen. Die Kostensituation der Unternehmen müsse verbessert werden, um den Übergang von der mechanischen zur elektronischen Uhr zu bewältigen. ((StAVS 4.9-415, Verband der deutschen Uhrenindustrie e.V., Ergebnis der Besprechung im Wirtschaftsministerium am  1.12.1978 in Stuttgart))  In der Zwischenzeit hatte der Verband auch akzeptiert, dass sich die Organisationsstrukturen der Unternehmen verändern müssten, in dem vor allem die managementbereiche ausgeweitet würden.

Schließlich waren die geforderten Veränderungen nur mit hohen Investitionen möglich. Grundsätzlich seien die Auswirkungen für die Großuhrenindustrie gravierender, da hier noch alle Fertigungsstufen üblich seien. Die Kleinunternehmen hätten sich in der Zwischenzeit schon stark spezialisiert.

An der Quarzuhr führt kein Weg vorbei

In einer Mitgliederversammlung des VDU vom 15. 2. 1979 kamen die Anwesenden zu  der Überzeugung, dass trotz der entstehenden Arbeitsplatzverluste, die neue Uhrentechnologie weiter  verfolgt werden müsse, weil sich sonst die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Uhrenindustrie weiter verschlechtern würde. Wichtig schien auch die Feststellung, dass die Arbeitsplätze der Uhrenindustrie nicht nur durch die Einführung der Elektronik sondern auch durch Rationalisierungsmaßnahmen, die der Kostendruck verursachte, durch den Abbau der Fertigungstiefe, die veränderten Wettbewerbsbedingungen auf dem Weltmarkt und die Währungseinflüsse die Arbeitsplätze verringert hätten und Zukunft weiter verringern würden.

Die Redner waren überzeugt, dass man die zuständigen Ministerien davon überzeugen müsse, dass der Untersuchung der „Markterfordernisse“ die gleiche Bedeutung zukomme wie den technischen Forschungsvorhaben. Die anwesenden Uhrenunternehmer stellten fest: „die Uhrenindustrie wisse im Prinzip wie ein sinnvolles Marketing aufgezogen werden muss, es sei jedoch außerordentlich schwierig, die hierfür notwendigen Mittel bereitzustellen und deshalb müsste hier eine staatliche Unterstützung einsetzen“. ((StAVS 4.9-419 Ergebnisprotokoll der außerordentlichen Mitgliederversammlung des Verbandes der Deutschen Uhrenindustrie e. V., am 15.2. 1979, um 14.00 Uhr im Hotel Rappen Freudenstadt. S. 4))

Wegen der im Verhältnis zu den ausländischen Wettbewerben kleinen deutschen Betriebsgrößen mit den geringen Seriengrößen sollten mehr Kooperationen zwischen den Unternehmen angestrebt werden. Schuld an der Misere seien vor allem die hohen deutschen Löhne, die marktgerechte Preise und notwendige Aufwendungen für die Weiterentwicklung der Unternehmen verhinderten.

Die Töpferstudie beschrieb Maßnahmen, wie die deutsche Uhrenindustrie sich wandeln müsse, um global bestehen zu können. Die alten Betriebsstrukturen hätten ausgedient, es brauche neue Produktideen, neue Designideen, neue Ideen, was die betrieblichen Prozesse angehe, was den Vertrieb der Produkte  und das Kostenbewusstsein der Unternehmen angehe. Asien war mittlerweile nicht nur ein wichtiger Kunde für deutsche Produkte, sondern auch eine Möglichkeit Arbeitsplätze auszulagern, weil sie in Deutschland zu teuer geworden waren.

Mehr Kreativität, mehr Wissen und Ausbildung bei den Beschäftigten war gefragt, um die durch die neue Technologie größer werdenden Entscheidungsspielräume überhaupt nutzen zu können. Die Töpferstudie setzte sich zum ersten Mal mit den sozialen Auswirkungen der neuen Technologie aber auch des sich zunehmend verschärfenden globalen Wettbewerbs auseinander.  Die Überlegungen kamen zu spät, sie hätten gemacht werden müssen, solange in und mit der Uhrenindustrie noch gut verdient wurde. Der richtige Zeitpunkt für Veränderungen war ganz sicher verpasst worden. Wie kritisch die Lage war, wurde von der Öffentlichkeit und den Medien erst mit den Firmenzusammenbrüchen und Massenentlassungen 1974/ 1975 wahrgenommen.

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